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Kerkermeister

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Im Verlaufe einer Vortragsreise über Österreich-Themen durch Finnland kam ich auch nach Tampere ^ (Tammerfors), eine Stadt, die eine Hochburg der finnischen Arbeiterbewegung ist und die schon Lenin mit politischen Besuchen zu Konferenzen beehrte. Dementsprechend gibt es in dieser Stadt auch ein Lenin-Museum, das mir gezeigt wurde.

Der Direktor, der mich durch die Räume mit Bildern und Dokumenten führte, äußerte sich verlegen zu der dort befindlichen Kopie eines bekannten Bildes, das Lenin während der Oktoberrevolution, zwischen roten Fahnen und zu den Massen sprechend, darstellt', umringt von Stalin und anderen Schergen des Stalinismus, die in diesem Stadium der Revolution noch gar keine Rolle spielten, aber im Zuge der stalinistischen Verfälschung der Geschichte hineinretuschiert wurden, ebenso wie andere tatsächliche Mitkämpfer Lenins, allen voran Trotzki als Führer der Roten Armee, aus dem historischen Bild eliminiert wurden.

Szenenwechsel: AmA bend desselben Tages weilte ich mit einem finnischen Begleiter in einem Lokal, das sich, hoch über der Stadt gelegen, ähnlich wie das am Donauturm befindliche Restaurant, langsam, aber sicher, gleich der Geschichte, weiterdreht. Der Abend war durch leise Begleitmusik umrahmt, plötzlich ertönte die Melodie des Radetzkymarsches, die nicht nur mich als Österreicher, sondern auch meinen Begleiter elektrisierte und mit historischen Assoziationen versorgte.

Nicht nur diesmal und im hohen Norden, sondern auch anderswo und auch sonst ist es mir so ergangen, daß plötzlich ein Stück altes Österreich, ein Bild — etwa des alten Kaisers — oder Ton aus einer Zeit auftauchte, der man heute im Rückblick Gerechtigkeit widerfahren läßt, weil man erkennt, daß die Zerstörung des alten Österreich eine verhängnisvolle Weichenstellung war, die erst jenes Vakuum in Europa schuf, in das später die Kräfte der Barbarei eindringen konnten.

Fazit der beiden am selben Tag erlebten Szenen: Stalin und die anderen roten Götter, die sich als Befreier der Völker aufgespielt haben, werden als Kerkermeister entlarvt und als das angeprangert, was sie sind. Die Herrschenden des alten Österreich, das einst „Völkerkerker“ genannt wurde, aber erscheinen inzwischen, da die Völker wirkliche Kerker und Gefängnisse kennengelernt haben, als fürsorgliche, allerdings rührend hilflose und daher von der Geschichte überrollte Wärter und Hüter der ihnen Anvertrauten.

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