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KINDER BRAUCHEN MÄRCHEN UND TV

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Femsehen macht Kinder konzentra-tionsunfähig. Es nimmt ihnen Interesse am Lesen und Kreativität und verschlechtert die Schulleistungen. Die Kinder erkennen die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Femseh-welt nicht mehr. Das sind einige Aussagen aus Marie Winns schon etwas angejahrtem Bestseller „Die Droge im Wohnzimmer". Sind es wissenschaftliche Erkenntnisse? Was sagt die Medienforschung dazu?

Seit der Einführung des Femsehens gibt es die Sorge um seine Wirkung auf Kinder. Und seitdem gibt es auch wissenschaftliche Forschung zu dieser Frage. Tausende von Fallstudien, Experimenten und Felduntersuchungen wurden durchgeführt. Sie beschäftigen sich mit den Sorgen, die auch heute noch Eltern und Lehrer umtrei-ben, wie wir aus Umfragen wissen. Anders als bei der allgemeinen Medienforschung, wo die Schlüsselfrage immer die nach der Manipulation war, ging es hier um den möglichen Schaden für kindliche Entwicklung und Erziehung.

Die ersteh Studien widmeten sich genau jenen Fragen, auf die Marie Winn so unheilvolle Antworten zu geben weiß. Verdrängt das Femsehen tatsächlich das Lesen und andere als wertvoll erachtete Aktivitäten wie Spielen und Sport? Einhellige Antworten mehrerer Untersuchungen in unterschiedlichen Ländern: Gerade diese Tätigkeiten werden durch das Fernsehen wenig beeinträchtigt. Die Zeit für Femsehen ging früher in erster Linie für Comic-Hefte, Radiohören, Kino und unstrukturierte Tätigkeiten drauf. Entgegen einem weitverbreiteten Vorurteil lesen auch heutige Kinder noch, und sie lesen sogar gem. Das Femsehen ist dagegen in der Regel keineswegs die Lieblingsbeschäftigung von Kindern; Spielen, Sport und oft auch Malen machen ihnen mehr Spaß.

Und wie steht es um Konzentrationsfähigkeit und Schulleistungen? So mancher Forscher hat wohl gedacht, hier könnte man preiswert Lorbeeren ernten. Aber bis heute ist es niemandem gelungen, einen generell negativen Einfluß des Femsehens auf die Konzentrationsfähigkeit nachzuweisen. Die allgemeine Reizüberflutung und Hektik des modernen Alltags setzen einen Rahmen, in dem sich das Femsehen als Einzelfaktor nicht hervortun kann. Viele derschäd-lichen Einflüsse, die von Marie Winn und anderen dem Femsehen zugeschrieben werden, sind in Wahrheit solche unserer veränderten Lebensbedingungen. Das Femsehen ist ein beliebter Sündenbock.

Zur Einwirkung auf die Schulleistungen zeigen mehrere Studien, daß die Schüler mit den besten Schulleistungen etwa eineinhalb Stunden täglich fernsehen. Weniger sehen geht jedenfalls nicht mit besseren Schulleistungen zusammen, mehr sehen allerdings auch nicht. Was für die Schulleistung festgestellt wurde, gilt auch für andere Lebensbereiche. Die aktivsten, sportlichsten Kindermit den meisten Freunden und Freude am Lesen sind keine Wenigseher. Sie gehören zu der mittleren Gruppe, was die tägliche Fernsehdauer angeht. Neugier auf das Leben und aktive Informationssuche machen das Fernsehen zum „Fenster zur Welt".

Die Drohungen der „Droge im Wohnzimmer" schwinden also im Lichte der Forschungsergebnisse dahin. Die letzte der eingangs genannten Behauptungen, daß Kinder den Unterschied zwischen Sein und Schein nicht mehr entwickeln könnten, straft bereits die Alltagserfahrung Lügen. Natürlich ist es nach wie vor ein Problem der Kindheit, dahinterzukommen, daß es weder Märchenfiguren noch den Klapperstorch gibt. Aber die Forschung zeigt, daß bereits Volksschulkinder diese Entwicklungsleistung regelmäßig hinter sich bringen.

Was die Kinderfernsehforschung in den letzten Jahren wesentlich mehr beschäftigt hat, sind mögliche Einflüsse auf Angst und Aggressivität. Beide Fragen sind durch besorgniserregende Forschungsergebnisse in den Vordergrund getreten. In der sogenannten Vielseherforschung wurde festgestellt, daß Kinder, die exzessiv fernsehen, eher ängstliche und antriebsschwache Menschen sind, die wenig Selbstvertrauen haben. In psychologischen Labors wurde nachgewiesen, daß Kinder durchaus dazu neigen, auf dem Bildschirm beobachtetes gewalttätiges Verhalten nachzuahmen. Beide Erkenntnisse bewirkten - vor allem in den USA - öffentliche Betroffenheit und die Finanzierung einer Flut nach Nachfolgeuntersuchungen.

Was dabei herauskam, ist in seiner Verwirrung stiftenden Widersprüchlichkeit schwerlich zu übertreffen. Und spätestens jetzt mußte auch der letzte Wissenschaftler erkennen, was Einsichtige schon länger behauptet hatten. Die Frage nach der Wirkung des Fernsehens war falsch gestellt. Daß Fernsehen eine gesetzmäßige Wirkung auf Kinder ausübe, wie das etwa eine Impfung tun mag, war das falsche Denkmodell. So konnte in einigen Untersuchungen nachgewiesen werden, daß Fernsehbilder aggressive Verhaltensweisen hervorrufen, in anderen dagegen gelang der Beweis, daß das nicht so sei. Bezüglich der ängstlichen Vielseher tauchte sehr bald der Verdacht auf, daß nicht etwa das Femsehen die Ursache für die Ängstlichkeit sei, sondern umgekehrt die Ängstlichkeit die Ursache für das Vielsehen, weil das Selbstvertrauen für soziale Beziehungen fehle.

Es wurde klar, daß das Femsehen der Kinder ein einzelner Faktor im vielfältigen Lebenskontext ist, der nur in Wechselwirkung mit anderen Faktoren verstanden werden kann. Elterliche Vorbilder, familiale Normen, Erfahrungen in Kindergarten und Schule, die Realanschauung der sozialen Umwelt - all dies und noch mehr fließt mit ein, wenn Kinder sich einen Reim auf ihre Fernseheindrücke machen. Und dieser gesamte Lebenskontext kann eben seinen Stellenwert von Gewalttätigkeit aufweisen, der die Kinder aggressive Tele-Vorbilder nachahmen läßt. An anderen Kindern prallen die gleichen Vorbilder ab, weil sie ihnen im Kontext ihres Wert- und Denksystems eine andere Bedeutung beilegen.

Es ist - auch international - das Verdienst deutscher Forscher wie Bachmair, Charlton und Rogge, das feingliedrige Geflecht der kindlichen Verarbeitung von Fernseheindrücken in sorgfältigen Fallstudien offengelegt zu haben. Dabei ist deutlich geworden, in welch hohem Ausmaß die Kinder Medienerfahrungen fürdie Bewältigung ihrer alterstypischen Entwicklungsschritte in Dienst stellen. Ob es um die Auseinandersetzung mit Allmachtsphantasien, um die Verarbeitung derelterlichen Macht oder um Loslösungsprozesse geht, die Medien bieten Bilder, mit denen symbolisch bearbeitet werden kann, was nicht zur Sprache und nicht einmal zu Bewußtsein kommt. In diesem Sinne hat Bruno Bettelheim in seinen letzten Lebensjahren seinem berühmten Verdikt „Kinder brauchen Märchen" den ergänzenden Satz „Kinder brauchen Fernsehen" zur Seite gestellt.

Dies muß man vielleicht so ernst nicht nehmen, aber die Erkenntnis, daß Femsehen nicht wirkt wie Aspirin oder Radioaktivität, sondern daß das kindliche Bewußtsein mit diesen Bildern arbeitet wie mit allen anderen Eindrücken, die sollte man schon festhalten. Dies kann durchaus bedeuten, daß Femseheindrücke Angsterlebnisse oder unerwünschte Imitationen hervorrufen - wie Eindrücke aus der realen Umwelt auch. Erziehung muß sich mit dem Femsehen auseinandersetzen, muß die Rolle des Femsehens als Miterzieher beachten und bearbeiten.

Die Behauptungen von Marie Winn sind entweder von vornherein unbeweisbar oder aber widerlegt. Natürlich hat das Femsehen insgesamt die „Wirkung", daß Kinder und Jugendliche Tausende von Stunden ihrer Kindheit dafür hergeben. Es wäre lächerlich anzunehmen, daß dies ohne Einfluß auf die Kindheit und auf die Lebensbilder bleibt. Die Kinder lernen die Zeichen und Mythen unserer Gesellschaft. Das Femsehen bietet ihnen ein Gegengewicht zu Eltern und Lehrern. Es hat die Wahrnehmungsformen von sozialer Realität verändert. Femsehen ist ein integrierender Faktor unserer modernen Lebenswelt. Kinder müssen sich damit auseinandersetzen, sie können es sich zunutze machen und sie werden in ihrer Lebenshaltung sicher dadurch beeinflußt. Aber zur Verteufelung als Droge, zum Sündenbock für erzieherische Defizite eignet sich das Femsehen ganz gewiß nicht.

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