7038608-1990_07_10.jpg
Digital In Arbeit

Kinder können noch vertrauen

Werbung
Werbung
Werbung

Im Grunde weiß jeder von uns oder er ahnt es, was es aus­macht, ein Kind zu sein, war doch jeder ein Kind. Trotzdem ist es gut, sich das Wesen des Kindseins ge­genüber dem des Erwachsenseins bewußt zu machen.

Am unklarsten - oder sagen wir besser am geheimnisvollsten - ist uns das Kindsein im Mutterschoß. Wir sehen das Kind nicht, beschäf­tigen uns wohl mit seiner Existenz, die leibliche Mutter spürt es und erfährt es auf ihre Art, aber es bleibt unseren Sinnen doch weitgehend verborgen. Aber es existiert, dieses neue Leben eines neuen Menschen, von Vater und Mutter gezeugt, ein lebendiger Teil von ihnen vom Augenblick der Zeugung, bereits ausgestattet mit einem eigenen Lebensprogramm, das sofort an-und abzulaufen beginnt und sich auf wunderbare Weise entfaltet und verwirklicht. Freilich ist es auch schon verletzbar von der ersten Stunde an, ein Risiko, das in ir­gendeiner Form jedes Menschenle­ben dauernd begleitet bis zu seinem natürlichen Tod.

Aber der Lebensdrang ist und bleibt gewaltig wie die menschli­che Hoffnung, die beim Kind fast unzerstörbar groß ist und es bleibt. Die Voraussetzung jeder Hoffnung, der unbewußten wie der bewußten Hoffnung, ist es, offen zu sein für das, was kommen wird. Oft bestim­men gerade unsere Erwartungen das, was kommen wird. Diese Span­nung brauchen wir zum Leben, sie macht das Leben aus, sie ist am Beginn des Menschenlebens, des Kindseins, besonders groß. Zu­nächst mit Betonung des Körperli­chen, aber dann immer mehr im Seelisch-Geistigen. Das Kind „will" erwachsen werden, will das volle Menschsein erleben, es erfahren dürfen.

Kindsein heißt aber auch, sehr stark angewiesen sein, angewiesen auf uns Eltern und die übrigen Menschen und die es umgebende Wirklichkeit. Es kann ohne seine Mutter überhaupt nicht geboren werden und auch nachher braucht es Nahrung für Körper, Seele und Geist. Wenn wir sie ihm nicht ge­ben, verliert es sein Leben durch Hunger, körperlichen, seelischen und geistigen.

Dieses Angewiesensein, getragen von der großen Lebenshoffnung, macht das Kind zu einem Menschen, der auch voll Vertrauen ist, einem Urvertrauen, das dem Menschen von seinem Schöpfer geschenkt wurde, um lieben und die Wahrheit finden zu können. Und Kinder lie­ben gerne und innig und dankbar, wenn ihr Vertrauen nicht zerstört wird.

Das Erfahrenwollen, ja das Er­fahrenmüssen der Wirklichkeit benötigt die Hilfe von bereits Er­fahrenen, den Eltern, Geschwistern, Lehrern und anderen. Die Wirk-lichkeit erfahren zu wollen, bedeu­tet auch, die Grenzen des Mögli­chen und vernünftig Erlaubten, des Sinnvollen und Richtigen kennen zu lernen. Dazu braucht das Kind Erziehung und Erzieher, das heißt, Menschen, die dem Kind etwas geben, eben Erfahrungen weiterge­ben, mitteilen. Das ist ohne Autori­tät gar nicht möglich, weshalb eine antiautoritäre Erziehung ein Un­ding, ein bloßes Alleinlassen des Kindes ist. Es gibt keine freie Er­ziehung, denn ließe man ein Kind frei, dann würde man es eben gar nicht erziehen. Kinder wollen von den Erfahrenen eben erfahren, wie • es ist und wie weit man gehen kann und soll.

Gewiß, „es gibt tatsächlich in jeder lebenden Kreatur eine Zu­sammensetzung von Kräften und Funktionen, aber Erziehung heißt, ihnen eine besondere Form geben und sie zu bestimmten Zwecken herausbilden; oder sie heißt über­haupt nichts" (G. K. Chesterton). Das setzt voraus, daß der Erzieher über die rechte Erfahrung verfügt. Nochmals G. K. Chesterton in „Was Unrecht ist an der Welt": „Erzie-

hung ist nur Wahrheit in einem Zustand der Übertragung und wikönnen wir eine Wahrheit überliefern, wenn sie niemals in unsereHänden gewesen ist?" Und weite„Dies ist die einzige ewige Erziehung: von einer Wahrheit eineSache so überzeugt sein, daß mawagt, sie einem Kinde zu sagen."

Die große Hoffnung des Kindessein Vertrauen und sein Im-SinneUnbekümmertsein ruht auf seineUnschuld. Wohl trägt es auch aKind an der Erbschuld, hat abezunächst noch nicht selbst bewußpersönliche Schuld auf sich geladen, oft lange nicht. Dies macht daKind für uns auch so besonderliebenswert. Freilich kommt einmal auch die Stunde des Schuldigwerdens. Wie wichtig ist es dannwenn wir Erwachsene ihm sageund zeigen können, wie man mHilfe seines Gewissens und deLiebe zur Wahrheit wieder umkehren und Barmherzigkeit erlangekann, wie einem das Schuldiggewordensein wieder in vollem Sinngenommen wird, wenn wir deMenschen, an dem wir schuldi bitten.

Das Angewiesensein des Kindes auf uns Er­wachsene löst bei ihm erst dann Angst aus, wenn es meint, alleine gelassen zu sein. Zuerst als Säugling mit seinem Hunger, später auch in Wort und Tat. Es weiß und spürt, wie sehr es uns braucht und ruft deshalb ängstlich nach uns und weint.

Das Kind hat auch einen hohen Sinn für Gerechtigkeit. Es ver­steht eine gerechte, an­gemessene Strafe, nicht aber falsche Behaup­tungen, falsche Emo­tionen oder Tätlichkei­ten. Es leidet auch sehr unter ungerechtem Verhalten seiner Eltern untereinander. Für das Kind ist es unmißver­ständlich klar, daß Va­ter und Mutter und Fa­milie eine Einheit sind, in gegenseitiger Liebe zugetan. Untreue, Be­leidigungen oder gar Trennung sind nicht nur ein tiefer Schmerz, sondern oft bleibendes, (Begsteiger) nicht zu verarbeitendes Leid. Ein Kind kann sich meist viel weniger helfen als ein Erwachse­ ner. Der gesetzte Schaden kann blei­bende Wunden hinterlassen und auch auf andere weiterwirken.

Kinder sind viel weniger auf Besitz aus, vor allem materiellen Besitz, als Erwachsene. Sie sind zu­friedene Menschen, denn sie ver­trauen auf uns. Sie verlieren diese Zufriedenheit, wenn wir sie zu ver­wöhnen beginnen. Sie sind dank­bar auch für das wenige und wer­ den egoistisch und phantasiearm, wenn wir sie mit Gütern überhäu­fen. Sicher, das zum Leben Not­wendige brauchen sie und ab und zu ein wenig mehr, aber Überfluß können sie nicht auf rechte Weise verkraften, ja er schadet ihnen. Auch unechte emotionelle Verwöh­nung ertragen sie nicht gut, sie merken das Unechte des Über­schwanges und der Verwöhner wird unglaubwürdig.

Freilich läßt sich auch schon ein Kind, und das in jedem Alter, auf den falschen Weg bringen, weil es über die Gabe der rechten Unter­scheidung noch nicht im gehörigen Maße verfügt, eine Gabe, die rechte Erziehung ihm vermitteln muß.

Alle diese Eigenschaften des Kindseins sind eine große Heraus­forderung für den Erwachsenen. Kinder können uns Erwachsenen durch ihr klares, richtiges Mensch­sein, solange sie noch nicht ver­führt wurden, in ergreifender Wei­se helfen und uns zur Umkehr füh­ren, wieder „nach Hause bringen", in unser irdisches und in unser gött­liches Zuhause.

Der Autor ist Professor für Kinderheilkunde an der Universität Innsbruck

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung