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Kinder sind kein unnötiger Luxus

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Das deutsche Bundesver- fassungsgericht hat ent- schieden: Bei der Besteue- rung der Familie muß das Existenzminimum sämtlicher Mitglieder steuerfrei bleiben. Und bei uns?

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Das deutsche Bundesver- fassungsgericht hat ent- schieden: Bei der Besteue- rung der Familie muß das Existenzminimum sämtlicher Mitglieder steuerfrei bleiben. Und bei uns?

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„Bei der Besteuerung einer Fa- milie muß das Existenzminimum sämtlicher Familienmitglieder steuerfrei bleiben. Das gilt unab- hängig davon, wie die Besteuerung im einzelnen ausgestaltet ist und welche Familienmitglieder dabei als Steuerpflichtige herangezogen werden. Auch wenn, wie es in aller Regel bei Eltern mit noch nicht selbstverdienenden Kindern der Fall ist, nur einzelne Familienmit- glieder ein Einkommen erzielen und diese aufgrund gesetzlicher Ver- pflichtung für den Unterhalt der weiteren Familienmitglieder auf- kommen, muß das Existenzmini- mum für die ganze Familie steuer- frei bleiben." Das stellte das deut- sche Bundesverfassungsgericht nach einer verfassungsrechtlichen Prüfung einiger Gesetzesbestim- mungen, die das Kindergeld im Zusammenwirken mit der Einkom- mensteuer betreffen, fest.

Diese Entscheidung ist auch für Österreich von Interesse seit das Dr.-Karl-Kummer-Institut ge- meinsam mit den österreichischen Familienverbänden den Zugriff des Staates selbst auf das Existenzmi- nimum der Familie aufgedeckt, und sich die ÖVP die Durchsetzung der Einkommensteuerfreiheit des Exi- stenzminimums für jedes Familien- mitglied für dje nächste Legisla- turperiode zum Ziel gesetzt hat. Seitens der FPÖ ist schon ähnliches angekündigt worden, und es ist kaum vorstellbar, daß sich die nach der nächsten Nationalratswahl Verantwortlichen der SPÖ einer Beseitigung dieses menschenrechts- widrigen Zustandes in den Weg stellen werden.

Diese Verfassungsentscheidung ist auch aus einer anderen Sicht interessant, in welcher - bislang zumindest noch - zwischen den Koalitionspartnern große Differen- zen bestehen: Über die Auswirkun- gen einer steuerlichen Entlastung des Existenzminimums auf die Besteuerung des Gesamteinkom- mens. Während die einschlägigen Fachleute und die Familienpoliti- ker der ÖVP die Meinung vertreten, daß die Unterhaltsverpflichtung für Familienangehörige die steuerliche Leistungsfähigkeit des Steuer- pflichtigen insgesamt reduziert, haben die Sozialisten bisher die Wiedereinführung des (bis 1982 gültigen) Kinderfreibetrages, der das steuerpflichtige Einkommen insgesamt um diesen Betrag ver- kürzt, mit der Begründung verhin- dert, daß die Bezieher höherer Ein- kommen daraus einen größeren Vorteil ziehen. Daher war bisher nur ein fixer Absetzbetrag für jedes Kind durchsetzbar, obwohl jeder Familienerhalter aufgrund der Progression des Steuertarifs für jedes unterhaltspflichtige Kind auch eine unverhältnismäßig höhe- re Steuerlast zu tragen hat. Und selbst der Absetzbetrag ist nur nach größten Widerständen, in einem völlig unzureichenden Ausmaß und nur für Familienalleinerhalter durchsetzbar gewesen!

Das Bundesverfassungsgericht zieht auch in dieser Frage die aus dem System der Steuerprogression zwingenden Konsequenzen: „Die Steuerfreiheit des Existenzmini- mums wirkt sich auch auf die Be- steuerung eines Einkommens aus, das dieses Existenzminimum über- steigt. Das Existenzminimum muß dem Steuerpflichtigen nicht nur nach Abzug der Steuern erhalten bleiben. Der Gesetzgeber darf auch nur das darüber hinausgehende Einkommen der Besteuerung un- terwerfen, weil andernfalls Fami- lien mit unterhaltsbedürftigen Kindern gegenüber den sonstigen Familien, gegenüber kinderlosen Ehepaaren und gegenüber kinder- losen Alleinstehenden benachtei- ligt werden würden. "Diese Rechts- auffassung hat das Bundesverfas- sungsgericht dann in einer weiter- en Entscheidung bekräftigt.

Das Bundesverfassungsgericht begründet dies mit dem Verfas- sungsgrundsatz der Gleichheit al- ler Menschen vor dem Gesetz, den er unter Hinweis auf frühere Ent- scheidungen verletzt sieht, „wenn der Staat eine Gruppe von Norm- adressaten im Vergleich zu ande- ren Normadressaten anders behan- delt, obwohl zwischen beiden Grup- pen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht beste- hen, daß sie die ungleiche Behand- lung rechtfertigen könnten." Dar- aus folge für das Gebiet des Steuer- rechts, daß die Besteuerung an der wirtschaftlichen Leistungsfähig- keit ausgerichtet werden muß. Das gelte insbesondere im Einkommen- steuerrecht, das auf die Leistungs- fähigkeit des einzelnen Steuer- pflichtigen hin angelegt ist. Die für den Steuerpflichtigen unvermeid- bare Sonderbelastung durch Un- terhaltsverpflichtungen mindere seine Leistungsfähigkeit und dürfe ohne Verstoß gegen den verfas- sungsrechtlich abgesicherten Gleichheitsgrundsatz vom Gesetz- geber nicht unberücksichtigt blei- ben.

Die FURCHE hat wiederholt die Meinung vertreten, daß die Besteue- rung des Existenzminimums der Fa- milienangehörigen und die Be- schränkung der steuerlichen Be- rücksichtigung der Unterhaltsver- pflichtungen auf einem einkom- mensunabhängigen Absetzbetrag die Anerkennung eines Vorranges des Staates vor der Familie bedeu- tet.

Dieselbe gesellschaftspolitische Perspektive hat das deutsche Ver- fassungsgericht nun in folgende Argumentation gekleidet: „Auch Unterhaltsaufwendungen für Kin- der sind grundsätzlich keine Auf- wendungen im privaten Bereich, die nach der Grundregel des Ein- kommensteuergesetzes steuerlich als allgemeine Kosten der Lebens- führung nicht abzugsfähig sind; vielmehr muß berücksichtigt wer- den, daß durch diese Aufwendun- gen die steuerliche Leistungsfähig- keit gemindert wird." Der Staat dürfe Kinder und private Bedürf- nisbefriedigung nicht auf eine Stu- fe stellen und danach auf die Mit- tel , die für den Lebensunterhalt von Kindern unerläßlich sind, nicht in gleicher Weise zugreifen wie auf fi- nanzielle Mittel, die zur Befriedi- gung beliebiger Bedürfnisse einge- setzt werden. Er müsse die Ent- scheidung der Eltern zugunsten von Kindern achten und den Eltern im Steuerrecht nicht etwa die „Ver- meidbarkeit" von Kindern in glei- cher Weise entgegenhalten wie die Vermeidbarkeit sonstiger Lebens- führungskosten .

„Der Höhe nach muß der Staat bei der Beurteilung der steuerli- chen Leistungsfähigkeit den Un- terhaltsaufwand von Kindern der Steuerpflichtigen in dem Umfang als besteuerbares Einkommen au- ßer Betracht lassen, indem die Unterhaltsaufwendung zur Ge- währleistung des Existenzmini- mums der Kinder erforderlich sind." Soweit das Einkommen der Familie benötigt wird, um ihr die Mindestvoraussetzung für ein men- schenwürdiges Dasein zu gewähr- leisten, sei es - unabhängig vom sozialen Status der Familie - nicht disponibel und könne nicht Grund- lage der steuerlichen Leistungsfä- higkeit sein. Wird die Besteuerung für Kinderlose und Steuerpflichti- ge mit Kindern nach einem einheit- lichen Tarif vorgenommen, so wer- den die letzteren gegenüber den ersteren benachteiligt, wenn von ihrem Einkommen der Unterhalts- aufwand für Kinder nicht wenig- stens in Höhe des Existenzmini- mums abgezogen wird; denn sie werden dadurch im Ergebnis einer höheren Steuer- belastung unter- worfen als kin- derlose Ehepaare oder Alleinste- hende, weil sie bei gleichem Aus- gangseinkommen die gleiche Steu- erlast tragen wie Kinderlose, ob- wohl ihr Einkom- men in Höhe des Existenzmini- mums der Kinder gebunden ist und ihnen daher inso- weit nicht zur freien Verwen- dung zur Verfü- gung steht.

Für Österreich ist darüber hin- aus auch rele- vant, daß das Bundesverfas- sungsgericht seine Rechtsansicht nicht nur auf die Verpflichtungen aus dem Grundgesetz zum Schutze der Würde des Menschen (Art. 1), zum Schutz von Ehe und Familie (Art. 6, Abs. 1) und zum Schutz des Sozialstaates (Art. 20 Abs. 1) stützt, sondern vor allem auf den Gleich- heitsgrundsatz. Der Artikel 1 des österreichischen Staatsgrundgeset- zes aus 1867 ist mit dem Artikel 3 Abs. 1 des deutschen Grundgeset- zes fast identisch: „Vordem Gesetz sind alle Staatsbürger gleich".

Wie die Argumentation des Bun- desverfassungsgerichts zeigt, ist der auch in der österreichischen Bun- desverfassung verankerte Gleich- heitsgrundsatz völlig ausreichend, um daraus die steuerliche Unan- tastbarkeit des Existenzminimums jedes Menschen in Form eines Steu- erfreibetrages zu rechtfertigen, der freilich der Höhe nach im Zusam- menhang mit der Familienbeihilfe gesehen werden muß.

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