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Kinderkunst im Künstlerhaus

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Daß Wien - obwohl als konservativ verschrien - zu Beginn unseres Jahrhunderts wieder einmal Pionierarbeit geleistet hat, zeigt die Ausstellung „Wiener Kinderkunst aus acht Jahrzehnten“, die gegenwärtig im Künstlerhaus gezeigt wird. Denn was heute als selbstverständlicher Aspekt zu jeder Kunsterziehung der Schulen gehört, bedeutete damals eine Revolution: das freie Gestalten des Kindes aus eigenem Antrieb, aus eigenen Bedürfnissen heraus. Und damit verbunden die Distanzierung von Vorbildern, Beispielen, vom möglichst formgerechten Abmalen, Abzeichnen, oft bis hinein ins Detail und nur dann „schön“, „wertvoll“, der guten Note würdig.

Den Weg von einer „Beibringschule“, in der das Vorbild dominierte, dem es treulich nachzueifern galt, bis hin zur kreativen Selbstfindung ist in den zwanziger und dreißiger Jahren der Wiener Kunstpädagoge Franz Cizek gegangen. Dominierte in den Anfängen der von ihm 1918 gegründeten „Jugendkunstklasse“ noch die traditionelle Lehrmethode, so zeigt sich bereits in der Zwischenkriegszeit eine Lockerung in Richtung zur Pflege selbsttätigen Gestaltungswillens. Cizek, der schon zu Lebzeiten internationalen Ruf genoß, gilt heute als einer der bedeutendsten Wegbereiter der modernen Kindermalerei.

Der Zeitpunkt der Ausstellung, die neben Arbeiten aus der Jugendkunstklasse Cizeks auch solche zeigt, die unter seiner Nachfolgerin, Frau Professor Adelheid Schimitzek entstanden, sowie Zeichnungen und Malereien der „offenen Malklassen“ des Landesju-gendreferates unter der Leitung von Professor Dr. Ludwig Hofmann, scheint günstig gewählt - die Voraussetzungen zu einem allgemeinen Verständnis sind vorhanden. Nicht nur moderne Kunstanschauungen vom Künstler als autonomes Individuum, sondern auch Philosophie und Psychologie haben den Weg dazu freigemacht. Was Kunst ist, bestimmen nicht mehr objektive Kriterien, sondern der subjektive Ausdruckswille des Künstlers. Der Mensch in seinen individuellen Möglichkeiten dominiert. Diese Anschauungen führten zur „Kunst der Geisteskranken“ ebenso wie zur „Kunst des Kindes“.

Die Frage, die in diesem Zusammenhang oft gestellt wird, nämlich ob das denn noch (oder schon) Kunst sei, ist von vornherein falsch gestellt, der Ausdruck Kunst in diesem Zusammenhang irreführend, weil es gar nicht um das Entstehen von Kunstwerken geht, vielmehr um ein Aktivieren und Auslebenlassen kindlicher Phantasie und Kreativität.

Und doch sind die bunten, bewegten, zum Teil sehr originellen und phantastischen Bilder in den Sälen des Künstlerhauses dazu angetan, ein Gefühl der Freude ebenso wie der Betroffenheit zu schaffen. Freude, weil hier noch sehr viel vorhanden ist, was später verschüttet wird, vielleicht auch, weil in dem Dargestellten eigene Erinnerungen, eigene Erlebnisse lebendig werden. Betroffenheit, weil aus diesen Kinderzeichnungen häufig sehr direkt und unverhüllt die einfachste und vielleicht gerade darum erschütterndste Form der menschlichen Not, der Verlassenheit, des Mangels an Liebe, gescheiterte Selbstbehauptung spricht. Und mögen die gelegentlich zu den Bildern angebrachten psychologischen Deutungsversuche auch vielfach etwas überspitzt erscheinen, bleibt doch die unübersehbare Tatsache bestehen, daß Kinderzeichnungen ein Spiegel der kindlichen Seele sind.

Die Arbeiten Cizeks gliedern sich in zwei Phasen: die erste umfaßt die frühen Arbeiten der Jugendkunstklasse bis etwa 1930. Die Zeichnungen, Malereien, Linol- und Buntpapierschnitte sind mit großer Sorgfalt hergestellt, mit viel Freude am kleinen, gut beobachteten Detail. Und obwohl Cizek auch schon damals mit einem Minimum an Einflußnahme arbeitete, entsprechen die Darstellungen doch sehr deutlich dem Geschmack der Zeit. Sie erinnern mit ihren pausbäckigen, niedlichen und adretten Kindergestalten häufig an ähnliche Darstellungen in den damaligen Kinderbüchern.

Oft auch sind Anklänge an Kunstrichtungen wie Jugendstil, Impressionismus und Expressionismus festzustellen. Es sind jene Arbeiten, die -wohl weil sie so sehr dem Zeitgeschmack entsprachen - auch am bekanntesten geworden sind und auf zahlreichen Ausstellungen im In- und Ausland den internationalen Ruf der Klasse begründeten. Denn Cizek war mit seiner Gruppe nicht nur in England, Deutschland, der Schweiz, Frankreich und Skandinavien, sondern auch in den USA, in Südfrankreich, Australien und in Indien, wo Rabindranath Tagore die Bilder bewunderte. Trotz einem unbestreitbaren, sehr poetischen Reiz haben sie zugleich jedoch auch etwas Starres, fast Klischeehaftes und veranlassen zu der Überlegung, ob wohl das, was wir heute unter „Kinderkunst“ verstehen, aus späterer Sicht ebenso in die Nähe einer Modeerscheinung rückt?

Jedenfalls darf die pädagogische Bedeutung des nächsten Schrittes nicht übersehen werden. Durch die allgemeine Entwicklung in die Enge getrieben, fühlte Cizek sich in einer Sackgasse, machte kehrt, änderte sein bisheriges Konzept und meinte: „Wir müssen noch einmal von vorne anfangen.“ Das ist auch insofern interessant, als es genau den damaligen künstlerischen und philosophischen Strömungen entsprach. Der Einfluß Klages', Hartlaubs, Freuds ist hier ebenso festzustellen wie jener von Künstlergruppen wie „Der blaue Reiter“ und „Die Brücke“. Kandinsky meinte: „Schön ist, was einer inneren Notwendigkeit entspricht.“ C. G. Jung spricht davon, daß Seele Bild sei und Bild Seele.

Die Psychologie versuchte sich zunehmend in Deutungen von Kinderzeichnungen. Es wurden dazu sogar eigene Tests ausgearbeitet. Und auch in der Kunstpädagogik dieser Schritt: Aus den Zeichnungen soll die Seele des Kindes sprechen.

Cizek zieht das Resümee und folgt seinem Leitspruch: „Nichts lernen, nichts lehren, wachsen lassen aus der eigenen Wurzel“ - konsequenter als zuvor. Der Mensch - in diesem Fall das Kind - steht im Mittelpunkt und soll aus sich heraus einen veralteten Kunstbegriff erneuern helfen. Wobei es Cizek jetzt nicht mehr so sehr um die sogenannten „Wunderkinder“ geht, sondern um das Kind schlechthin in allen seinen Möglichkeiten.

Dieser Ubergang vollzieht sich natürlich nicht plötzlich, sondern allmählich und langsam. Immerhin entstehen in der Folge so „revolutionäre“ Zeichnungen wie die Tuschzeichnung „Mutter und Kind“, die in ihrer Naivität und Einfachheit, mit ihren unproportionierten Formen, einen tatsächlichen Bruch mit allem Vorangegangenen darstellt. In der Folge werden dann die Bilder freier, lockerer, um gegen Ende der Cizek-Ära (er starb 1946) fast „modern“ im heutigen Sinne zu wirken. Und mag man auch mit nostalgischen Gefühlen das Verschwinden dieser lieblichen, im Dekorativen oft geradezu schwelgenden Malerei bedauern, so ergeben sich doch andererseits wiederum ganz neue Möglichkeiten. Zwei Kriege und der Zusammenbruch einer alten Gesellschaftsordnung, in der ästhetische Gesetze den Geschmack bestimmten, haben völlig neue Auffassungen geschaffen.

Nach einer Ubergangszeit von fast zehn Jahren unter Frau Professor Schimitzek hat dann das Landesju-gendreferat sogenannte „offene Malklassen“ eingerichtet, die an die Arbeit Cizeks anknüpfen sollten. Was sich daraus entwickelt hat, wird unter ein Zitat von Margarete Mead gestellt: „Wir müssen offene Systeme schaffen, die sich auf die Zukunft konzentrieren und damit auf die Kinder, auf diejenigen, über deren Fähigkeiten wir immer noch am wenigsten unterrichtet sind und deren Entscheidungsfreiheit nicht vorgegriffen werden darf...“

Das Ergebnis ist ein farbenfreudiges Konglomerat sich überstürzender Bilder und Eindrücke, mit dem Bleistift, der Feder, dem Pinsel. Auch Kollagen, aus Buntpapier, Gemeinschaftsarbeiten zum Teil. Das Detail, der sorgfältig gemalte Gegenstand, das Ornament fehlen. Dafür sind die Darstellungen sehr lebendig und kommen aus der unmittelbaren Umgebung des Kindes: die Mutter spielt eine dominierende Rolle, der Vater, die Geschwister, das Haus, in dem man wohnt, der Garten, in dem das Kind spielt. Aber auch - und das trotz „aufgeklärtem Weltbild“ - die guten alten Märchenfiguren wie Zauberer und Kobolde, Drachen und Schlangen, Hexen und böse Geister. Und in all dem verpackt: Wünsche und Vorstellungen, Ängste und Freuden, Siegen und Versagen. Es ist ein buntes Abbild von dem, was Leben heißt - ein kleines Leben noch, ein hilfsbedürftiges, abhängiges Leben, und doch sprechend und groß in seiner Direktheit, seiner Unbekümme rtheit.

Wobei der besondere Reiz ganz sicher in dem liegt, was wir an Kindern ganz im allgemeinen lieben, worum wir sie manchmal sogar beneiden: die ganz große Möglichkeit einer ganz großen Offenheit, die Chance, alles zu gewinnen oder alles zu verderben, der große Anfang mit den großen Versprechungen, die einzuhalten noch nicht verlangt wird.

Die meisten Zeichnungen und Malereien stammen von Kindern zwischen sechs und zehn Jahren, weil „das schöpferische Gestalten bei den meisten Kindern nach dem zehnten Lebensjahr aufhört“. Und für eben diese Altersgruppe findet an den Wochenenden an Ort und Stelle auch ein Malwettbewerb statt, wobei die schönsten Arbeiten prämiiert und ausgestellt werden. Der engagierte Professor Dr. Hofmann, auf dessen Initiative die Ausstellung zurückgeht, ist auch für die psychologischen Deutungsversuche bei manchen Bildern zuständig. Eine interessant-vergnügliche Ausstellung für alle jene, die Kinder haben, Kinder heben oder sich auch nur ins Kindsein zurückversetzen möchten.

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