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Kindertelefon als Elternersatz?

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„Ich bin der Thomas, wer bist Du? Ich habe einen großen Fleck auf meiner Hose, kannst Du mir sagen, wie ich den herausbekomme?“ fragt ein etwa elfjähriger Bub im Kindertelefon. In allen Schulen ist die Nummer des Telefons für Kinder angeschlagen.

Seit zweieinhalb Jahren hat die Magistratsabteilung 11, Jugendamt, diese Servicestelle eingerichtet. Schon im Vorschulalter wählen Mutter oder Tante diese Nummer, um ihrem Kleinkind das Telefonieren beizubringen.

Am Nachmittag muß das Kindertelefon bei der Aufgabe helfen: wie man eine Schlußrechnung löst, ein bestimmtes Vokabel finden kann oder wie der höchste Berg in Österreich heißt.

Gern fragen „Schlüsselkinder“ dort an, was sie spielen oder basteln könnten, oder wohin sie sich wenden können, um mit anderen Kindern zu spielen. Das Beschäftigungsproblem steht neben den Bildungsfragen an erster Stelle.

Dabei verhalten sich die Kinder, im Gegensatz zu den Erwachsenen ganz unkompliziert: Sie rufen aus eigenem Antrieb an und sagen sogleich ihre Wünsche. Für sie hat dieses Telefon eine echte Ventilfunktion. Oft wollen sie ein Gedicht aufsagen, ein Lied vorsingen, einfach angehört werden oder der Onkel am Telefon soll ihnen selbst etwas vorsingen.

Es ist so wichtig für sie, daß sie jemand anhört, daß sie sich angenommen fühlen können. Der Sozialarbeiter Michael Vorläufer vom Kindertelefon meint, es würde den Kleinen sogar das

Gespräch erleichtern, daß sie kein Gesicht vor sich haben, daß sie nicht sofort bewertet werden.

Die Anonymität der Großstadt schlägt sich bei ihnen bereits nieder. „Ein großer Wohnblock, ein Hochhaus bedeutet für die Kinder mehr Einsamkeit, keinesfalls mehr Menschen“, sagt er. Vater und Mutter stehen im Erwerb, die Kinder kennen weder die Nachbarin noch einen Spielkameraden im nächsten Stockwerk.

Darum klingelt es auch in den Ferien und an schulfreien Tagen öfter im Kindertelefon als während der Schulzeit.

Das Kindertelefon ersetzt offensichtlich die Eltern bei der Hausaufgabe und in der Freizeit. Schon früh wird das Kind daran gewöhnt, Mutter- und Vaterersatz zu suchen. Die Freizeit der Erwachsenen ist knapp, man kann sich mit dem Nachwuchs nicht beschäftigen. Im Kindertelefon da wissen die Leute schon, wie man mit den Kleinen umgeht.

Es ist eine relativ günstige Lösung. Daß es aber nicht streichelt, nicht den Arm um die Schultern legt, nicht mitspielt oder die Hausaufgaben nachher ansieht, wer denkt schon daran, daß ein Kind auch die Körpernähe eines anderen zum Menschwerden braucht!

Die Angst, wenn schlechte Noten kommen, oder ein Riß in der Hose ist, läßt die Kinder ebenfalls zum Telefon greifen. „Die Schule ist eine echte Belastung für das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern“, sagt Michael Vorläufer. „Der Wunsch, mit den Eltern ins reine zu kommen, sich bei ihnen geborgen zu fühlen, ist ganz groß. Vor allem ist es wichtig, die Kinder anzuhören und nicht gleich zu richten“, sagt der Sozialarbeiter. Zur Tante oder dem Onkel im Telefon haben sie oft mehr Vertrauen als zu Vater und Mutter.

Dann und wann - eher des Nachts - kommt es auch zu einer Krisenintervention, wenn ein Kind mißhandelt oder in eine Rauschgiftaffäre verwik- kelt wird. Deshalb ist das Kindertelefon rund um die Uhr besetzt. Des Nachts macht meistens eine Schwester oder ein Beamter des Jugendamtes Dienst. Fürsorgestellen und Auffangheime treten dann in Funktion.

Doch wo bleibt der Mensch, die Bezugsperson, die sich allein und ausschließlich dieses Kindes annimmt? „Ein Herz für Kinder“ klebt am Auto, aber Zeit nehmen und dasein, ist eine andere Sache.

Verliert der Heranwachsende dann allmählich die Sprache gegenüber den Eltern, staut dann Aggressionen in sich auf, die sich in unvorhergesehenen Momenten entladen, ist die Enttäuschung der Erwachsenen perfekt: „ Wir haben ihm alles geboten, was wir leisten konnten, das ist der Dank dafür.“

Doch die schönste Stereoanlage und der neueste Superski ist eben kein Ersatz für elterliche Liebe und Zuwendung. Die nämlich kann auch das Kindertelefon nicht ersetzen!

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