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Kirche im Kampf gegen die Armut

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FURCHE: Wie beurteilen Sie die derzeitigen Beziehungen zwischen Kirche und Staat in Brasilien?

PAULO EV ARISTO ARNS: Die Beziehungen zwischen Kirche und Staat in Brasilien sind einmal mehr, einmal weniger gespannt, aber es sind ipimer Beziehungen, in denen sich zwei gegensätzliche Positionen gegenüberstehen: auf der einen Seite die Regierung, die eine Wirtschaftspolitik verfolgt, welche den Reichtum in den Händen einiger weniger konzentriert, während die große Mehrheit der Bevölkerung immer ärmer wird, und auf der anderen Seite eine Kirche, die in dauerndem Kontakt mit den Opfern dieser Ungleichheit steht.

Immer wenn die Kirche ihre Stimme im Namen der Gerechtigkeit für die Opfer der Ausbeutung oder der Unterdrückung erhebt, schafft sie zwangsläufig Probleme für die Regierung, die ihre Politik in Frage gestellt sieht. Immer wenn die Kirche jenen, die leiden, hilft, sich ihrer Rechte und Verteidigungsmöglichkeiten bewußt zu werden, nährt sie zwangsläufig den Widerstand gegen die Regierung.

So wurden zwei französische Missionare in Haft genommen, die ihrer Pastoralarbeit in einer Region nachkamen, wo der kapitalistische Geiz die kleinen Landarbeiter auf schreckliche Weise unter Druck setzt, ihren Grund und Boden aufzugeben, um großen nationalen und internationalen Unternehmen Platz zu machen. Aber in Wahrheit wird eigentlich die gesamte Pastoraltä- tigkeit der Kirche am Exempel dieser beiden Missionare verurteilt.

Die Reibungsflächen zwischen Regierung und Kirche vervielfachen sich in genau dem Ausmaß, indem die Regierung auf ihrem jetzigen brasilianischen Wirtschaftsmodell beharrt und die

Kirche weiterhin ihrer Sendung treu zu bleiben sucht.

FURCHE: Werden im Brasilien von Heute die Menschenrechte immer und überall respektiert?

KARDINAL ARNS: Nein, im Gegenteil. Der’Großteil der Brasilianer ist politisch und wirtschaftlich völlig marginalisiert, was bedeutet, daß ihre elementarsten Rechte alles andere als respektiert werden. Einerseits ist eben eines der Charakteristika der Unterentwicklung genau die Unfähigkeit der Gesellschaft, über jene Mittel zu verfügen, die notwendig sind, um die Rechte aller zu wahren. So besitzt zum Beispiel die große Mehrheit der Leute kein Haus, das die Bezeichnung „Haus“ verdient, weil sie nicht einmal das Notwendigste verdienen und weil der Staat mit seinen Sozialprogrammen nicht für diesen Mangel aufkommen kann.

Andererseits werden diese Schwierigkeiten, die sich aus der

Unterentwicklung ergeben, in Brasilien noch verstärkt durch das hier angewandte Wirtschaftsmodell, das den Reichtum noch mehr konzentriert und das die Unterdrückung derjenigen, die sich gegen das System stellen, erfordert. So wird selbst das Recht auf Verteidigung, wie das Streikrecht, beschränkt, desgleichen das Recht, bei der Lösung der Probleme mitzumachen und dazu beizutragen.

FURCHE: Was hat die Kirche in Brasilien bisher für die Arihen getan und wa? kann sie weiterhin tun?

KARDINAL ARNS: Die Überwindung der rein karitativen Richtung, die in allen Ländern der Welt im Gange ist, ist noch vordringlicher in Ländern, wo der große Teil der Bevölkerung in extremer Armut lebt wie es in fast der ganzen Dritten Welt der Fall ist. Der Versuch, den Bedürfnissen der Bevölkerung mit Hilfe sogenannter „karitativer Werke“ entgegenzukommen, ist nicht nur undenkbar, sondern auch negativ, weil er Abhängigkeiten begründet, die nur schwer wieder zu beseitigen sind.

Die einzige Möglichkeit, die Armut zu überwinden, besteht in der Umformung der wirtschaftlichen und politischen Strukturen, die die Armut schaffen, erhalten und sogar noch vergrößern. Und diese Umformung ist nur möglich, wenn die Armen selber sich erheben, um eine neue Gesellschaft zu schaffen. Unter diesem Gesichtspunkt stellt sich der Kirche in Brasilien eine gewaltige Aufgabe. Die große Hilfe, die sie den Armen in Brasilien gewähren kann, ist, ihnen bewußt zu machen, daß auch sie Menschen sind, daß auch sie Rechte haben und daß sie fähig sind, sich zu organisieren, um für eine gerechtere Gesellschaft zu kämpfen.

FURCHE: Was müßte die Regierung unternehmenK um den Armen in Brasilien besser zu helfen?

KARDINAL ARNS: Wenn die Regierung Brasiliens ein Interesse daran hätte, den Armen zu helfen, würde sie etwas unternehmen, damit sich der Gewinn nicht in den Händen so weniger konzentriert, daß die Reichtümer des Landes nicht so ohne weiteres den multinationalen Gesellschaften zufließen. Sie würde großzügige Sozialprogramme starten, die notwendig sind, um den Rückstand auf dem Gebiet der Befriedigung der Grundbedürfnisse der Bevölkerung aufzuholen. Aber leider ist dies alles weit entfernt von den Sorgen der Regierung. Ihre einzige soziale Sorge ist die, zu verhindern, daß die sozialen Spannungen zu einer Explosion führen, die ihre eigene Macht gefährden könnte.

FURCHE: Können die Menschen in anderen Ländern, etwa in Österreich oder anderen europäischen Ländern, etwas tun, um auf irgendeine Art ihre Solidarität mit dem brasilianischen Volk und der Dritten Welt zu demonstrieren?

KARDINAL ARNS: Wie Sie wissen, ist die Weltwirtschaft heute sehr integriert durch die Bande, die von den „Multis“ geknüpft wurden, und durch den Handel der Länder untereinander. Daher hat alles, was in den einzelnen Ländern geschieht, Wirkungen auch anderswo. Im Rahmen dieser Interdependenz gibt die Dritte Welt mehr, als sie nimmt: etwa, wenn sie Rohstoffe ohne industrielle Verarbeitung zu niedrigen Preisen exportiert, um später zu viel höheren Preisen dieselben Rohstoffe, die in Konsumgüter verwandelt worden sind, von den Industrieländern zurückzukaufen. Oder auch, wenn den Multis durch (niedrige) Löhne und Gehälter geringere Produktionskosten geboten werden. Die Löhne sind oft viel niedriger als jene, die in den Ländern gezahlt werden, in denen die Multis ihren Hauptsitz haben.

Man könnte auf verschiedene Art und Weise seine Solidarität mit dem brasilianischen Volk und der Dritten Welt zeigen. Aber eine der wirkungsvollsten Formen — zumindest mittelfristig gesehen — wäre wohl, wenn man sich der Ausbeutungsmechanismen, die unfreiwillige Komplizen der Völker der reichen Länder sind, bewußt wird und in seinem Land etwas tut, um zu verhindern, daß diese Mechanismen weiter die Situation der armen Länder verschlimmern.

Das ist eine schriftliche Beantwortung von Fragen, die der FURCHE-Chefredakteur dem Erzbischof der größten Stadt Südamerikas bei einem Besuch im Diözesanhaus von Säo Paulo, einem einfachen, einstöckigen Gebäude ohne jeglichen Prunk, vergangenen Herbst stellte. (Übersetzung aus dem Portugiesischen: ANTON FINK)

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