6872366-1978_29_09.jpg
Digital In Arbeit

Kirche und ÖVP: Schon mehr als ,ein Stück Weges gemeinsam

Werbung
Werbung
Werbung

1945 gab es in Österreich noch 5329 in der Seelsorge tätige Priester, 1975 waren es nur mehr 4321. Kamen 1945 auf einen Priester 1049 Katholiken, so waren es 1975 bereits 1620. Nimmt man als potentielle Kirchenbesucher 85 Prozent der Katholiken an, so gingen von diesen 1950 rund 40 Prozent in die Sonntagsmesse; heute sind es im österreichischen Durchschnitt nur mehr 30 Prozent. Betrachtet man schließlich die Zahl der katholischen Trauungen auf 100 Brautpaare, war sie 1963 mit 79,3 am höchsten, 1972 mit 65,3 am niedrigsten und 1975 mit 66,0 noch immer in unmittelbarer Nähe des Tiefpunktes.

Das sind nur einige der alarmierenden Zahlen, die Paul Michael Zulehner, Professor für Pastorältheologie an der Theologischen Hochschule in Passau, in seinem neuen Buch „Wie kommen wir aus der Krise? “ ungeschminkt der Öffentlichkeit präsentiert. Blickt man besonders auf die letzten der hier erfaßten dreißig Jahre österreichischer Kirchenstatistik, so sieht die Bilanz ein bißchen traurig und kümmerlich aus. Aber an den Zahlen gibt es nichts zu deuteln (abgesehen von einigen vom Autor selbst aufgezeigten Abweichungen zwischen kirchlicher und staatlicher Statistik, was die Anzahl der Katholiken betrifft). Dabei scheint die möglicherweise am wenigsten erfreuliche Zahl erst im Anhang auf, der auch 1976 noch einbezieht: Nach scheinbarer Stabilisierung hat die Zahl der Kirchenaustritte wieder deutlich zugenommen und ist allein von 1975 auf 1976 von 20.703 auf 23.228 gestiegen.

Zulehner untersucht zunächst den „Wandel im Verhältnis der Menschen zur Kirche“, unterscheidet die „Kerngemeinde“ von den „Auswahlchristen“. Typisch für die Mitglieder der „Kemgemeinde“ (1950:' 40,3 Prozent, 1975: 31 Prozent) - die'keineswegs homogen ist - ist neben hoher Beteiligung an Sonntagsmesse, Kommu-

nionempfang und Osterpflicht auch die Teilnahme am pastoralen Leben und am Glauben der Kirche. Die ständig wachsende Gruppe der „Auswahlchristen“ (1950: 59,7 Prozent, 1975: 69 Prozent) wählt - wie schon der Name sagt - aus dem Angebot der Kirche aus und beschränkt ihren Kontakt mit dieser im allgemeinen auf wichtige Wendepunkte im Leben (Taufe, Trauung, Begräbnis). Der Prototyp des Kerngemeindemitgliedes ist für den Statistiker eine Bäuerin, die ÖVP wählt, älter als 65 Jahre ist, in einem Ort unter 5000 Einwohnern lebt und nur die Volksschule besucht hat. Der Auswahlchrist gehört dagegen eher der FPÖ oder SPÖ an, ist freiberuflich, als Arbeiter oder als Angestellter tätig, wohnt in einer mittleren oder größeren Stadt, hat eine mittlere Büdung genossen und ist relativ jung.

Warum ist nun eine Gewichtsverlagerung von der Kerngemeinde zu den Auswahlchristen erfolgt? Warum sind gleichzeitig immer mehr Menschen aus der Kirche ausgetreten? Im Kapitel „Wandel im gesellschaftlichen Standort der Kirche“ bietet Zulehner einige Erklärungen an. Besonders wichtig erscheint ihm die wachsende „Pluralismus-Erfahrung“ - neben der kirchlichen Position werden dem Menschen immer mehr andere Auffassungen, andere Wertsysteme, bewußt gemacht, wobei als treibende Elemente bei diesem Prozeß erhöhte Mobilität, Verstädterung, Bildung, Kommunikationsmittel, gesellschaftliche Großgruppen und innerkirchliche Faktoren (Konzil, Enzyklika „Huma-nae vitae“) mitgespielt haben dürften. Negative Auswirkungen auf die Religiosität und damit auf die „Kirchlichkeit“ ließen sich auch durch den Individualismus, positive durch ein Stabilitätsbedürfnis feststellen.

Nach diesen Prämissen wirkt Zu-lehners Analyse der österreichischen Nachkriegsgeschichte verständlich. Bis zum Staatsvertrag herrschte ein starkes Stabüitätsbedürfnis, daher befand sich die Kirche im „Aufwind“. Danach gab es für etwa zehn Jahre einen als „Windstille“ charakterisierten kulturpolitischen Burgfrieden, ehe die Fortschrittseuphorie der sechziger Jahre der Kirche, die hier nicht ganz mitging (wohl auch nicht mitgehen konnte), den „Gegenwind“ ins Gesicht blies. Seit einigen Jahren konstatiert Zulehner - parallel mit einem in Wellenbewegungen auftretenden Zukunftspessimismus („Kollaps der Fortschrittsidee“) - für die Kirche einen „Wind aus uneinheitlichen Richtungen“. Auffallend, wie in der Statistik (im Buch graphisch noch etwas übertrieben dargestellt) Kirche und ÖVP seit 1945 schon mehr als „ein Stück Weges“ miteinander gehen. Höhen und Tiefen der Kirche und der ÖVP fallen offenbar zusammen, genau umgekehrt verhält es sich bei der SPÖ. Erstaunliches über den Zusammenhang zwischen Kirchenbes.uch und Wahl verhalten weiß Zulehner auch aus der Bundesrepublik Deutschland zu berichten. Gleichzeitig mit einer erstmals bei den Bundestagswahlen 1976 feststellbaren Trendumkehr bei den Erstwählern zugunsten der CDU gab es ein deutliches Ansteigen der Kirchenbesucher im Jungwähleralter.

Als Grundaufgaben der „Pastoral in der gewandelten Situation“ nennt Zulehner die Gemeindebüdung, die Pastoral der „Bekehrung“, die sich besonders der Auswahlchristen bei den dafür geeigneten Anknüpfungspunk-, ten (Taufe, Hochzeit, Begräbnis) annehmen soll, und die Pastoral für Nichtmitglieder. Dazu kommt, daß sich die Pastoral, um den Menschen zu helfen, in einer nichtchristlichen Welt als Christ leben zu können, um eine Dissonanzminderung bemühen muß. Für Zulehner ist deshalb „aggiorna-mento“ - „Ver-Heutigung“, nicht Anpassung der Kirche! - eine Daueraufgabe, die Mitarbeit der Christen an der Gestaltung der Gesellschaft unerläßlich. Am Beispiel einer Untersuchung der pastoralen Lage in der Diözese Graz von 1976 versucht der Autor schließlich Prioritäten für die zukünftige pastorale Arbeit aufzuzeigen:

Auswahlchristenpastoral, Verlebendigung der Kerngemeinden, Verbesserung der-Büß- und Beichtpraxis, Kinder- und Jugendpastoral und Bemühen um die Ökumene.

Zulehner schließt sein Buch, das für die künftige Pastoral in Österreich wenn schon nicht Wegweiser, so doch zumindest ein Orientierungspunkt ist, optimistisch. Er bezweifelt, daß ein schicksalhafter „Genosse Trend“ unentrinnbar gegen die Kirche arbeitet. Freilich fordert er von ihr vor allem drei Dinge:

• Sie braucht pastorale Identität.

• Sie muß neue „Plausibilitätsstruk-turen“ aufbauen.

• Sie muß „missionarisch“ werden.

Dann besteht für den scharfen Analytiker und konstruktiven Kritiker der gegenwärtigen Situation kein Grund zur Resignation: „Die Zukunft ist für die Kirche offener als noch vor wenigen Jahren.“

WIE KOMMEN WIR AUS DER KRISE? -Kirchliche Statistik Osterreichs 1945-1975 und ihre pastoralen Konsequenzen. Von Paul Michael Zulehner. Verlag Herder, Wien 1978, Paper back, 146 Seiten, oS 138,-.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung