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Kirche und Regierung auf Kollisionskurs

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Der Besuch des Papstes beherrscht noch immer die Erinnerung der Menschenmassen, die ihm in der ersten Juliwoche durch ganz Brasilien gefolgt sind. A ber schon braut sich ein neuer Konflikt in den bewegten Beziehungen zwischen Kirche und Staat zusammen. Die Ursache ist diesmal ein neues „Ausländergesetz", das Präsident Joao Figueiredo unterschrieben und der Kongreß ohne Diskussion verabschiedet hat, weil ein autoritäres Verfahren („decurso de prazo")die Möglichkeit bietet, ein Notstandsgesetz automatisch in Kraft zu setzen, wenn dies innerhalb von 45 Tagen unwidersprochen bleibt

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Der Besuch des Papstes beherrscht noch immer die Erinnerung der Menschenmassen, die ihm in der ersten Juliwoche durch ganz Brasilien gefolgt sind. A ber schon braut sich ein neuer Konflikt in den bewegten Beziehungen zwischen Kirche und Staat zusammen. Die Ursache ist diesmal ein neues „Ausländergesetz", das Präsident Joao Figueiredo unterschrieben und der Kongreß ohne Diskussion verabschiedet hat, weil ein autoritäres Verfahren („decurso de prazo")die Möglichkeit bietet, ein Notstandsgesetz automatisch in Kraft zu setzen, wenn dies innerhalb von 45 Tagen unwidersprochen bleibt

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Dieses Gesetz bietet der Regierung die Möglichkeit, Missionare an der Einreise zu hindern und im Land wirkende auszuweisen. Es löste Wellen des Unmuts in der Hierarchie der katholischen Kirche des Landes aus. Selbst der Papst äußerte Besorgnis über das neue „Ausländergesetz", als er in Brasilien mit Figueiredo sprach, hoffte aber vergeblich, daß es nicht in Kraft gesetzt würde.

Die Kirche hat gute Gründe für ihre Besorgnis: Derzeit sind schätzungsweise 40 Prozent des in Brasilien wirkenden Klerus Ausländer, vor allem in der Amazonasregion, wo Konflikte zwischen kleinen Landpächtern Und den Grundbesitzern ernste Ausmaße angenommen haben.

„Die Regierung will an Stelle des Heiligen Geistes entscheiden, wohin die Missionare entsandt werden sollen," kommentiert Rev. James Wright, Führer von „Clamor", einer Organisation, die politischen Flüchtlingen in Südamerika beisteht.

Rev. Wright vertritt die Auffassung, daß das Ausländergesetz Teil eines Bemühenssüdamerikanischer Militärs vor allem in Brasilien, Argentinien, Uruguay und Chile darstellt, ein Geheimdienst-Netz gegen politische Dissidenten aufzuziehen und der Polizei des einen Staates freie Hand bei der Identifizierung, Inhaftierung und Ausweisung von Bürgern des jeweils anderen Landes zu geben.

Die Hauptparagraphen des neuen Gesetzes ermächtigen die Regierung erstmals, einen Ausländer auch dann auszuweisen, wenn der oder die Betreffende mit einem brasilianischen Staatsbürger verheiratet ist oder ein in Brasilien geborenes Kind hat.

Es wird künftig auch möglich sein, einen Ausländer bis zu fünf Jahre auf ein bestimmtes Gebiet zu beschränken und Abkommen mit anderen Staaten zu treffen, nach denen Deportationen aller jener -Personen vorgenommen werden können, die das Land illegal betreten haben oder aus Gründen der „nationalen Sicherheit" oder des „nationalen Interesses" als „unerwünscht" anzusehen sind.

Die relative Liberalisierung des brasilianischen politischen Systems durch Beendigung der Folterung politischer Häftlinge und die Gewährung größerer Pressefreiheit hat Hunderte Argentinier, Uruguayer, Chilenen, Paraguaya-ner und nun auch Bolivianer angezogen, die die Grenzen nach Brasilien überschreiten.

In der dritten Augustwoche hat Präsident Jorge Videla von Argentinien nur drei Monate nach einem Staatsbesuch Präsident Figueiredos einen offiziellen Gegenbesuch abgestattet. Darüber entstanden Spekulationen unter lateinamerikanischen Flüchtlingen in Brasilien. Sie rechnen jederzeit mit ihrer Abschiebung.

Die Ursache ihrer Besorgnis liegt darin, daß die Regierung in der Verfolgung anscheinend begrenzter Ziele die gesamte Einwanderergesetzgebung überarbeiten ließ, wodurch die Verschärfung der Bestimmungen über Deportation und Ausweisung praktisch zu einer Schließung der brasilianischen Grenzen für neue Einwanderer geführt hat.

Auch Auslandsreisen von Brasilianern würden künftig stark verschärften Bestimmungen unterliegen. Nach einem Leitartikel des „Jornal do Brasil", Rios größter unabhängiger Zeitung, „kann das, was offiziell dazu gesagt wird, das Mißtrauen nur vergrößern. Die Regierung möchte Einwanderer, die als Facharbeiter und Techniker zugelassen werden, für fünf Jahre auf die ihnen zugedachten Regionen beschränken. Solche Methoden kennzeichnen aber kommunistische Länder."

Von der Kritik an allen Fronten peinlich berührt, stimmte die Regierung der Vorlage eines neuen Konzeptes an den Kongreß zu, „um die Schwächen des eben beschlossenen Gesetzes zu tilgen". Bisher ist aber nichts geschehen.

Das neue Gesetz schafft ein Polizei-Kontrollsystem für Ausländer. Hotelmanager, Grundstücksmakler, Bauunternehmer, Wohnungs- und Grundeigentümer müssen die Polizei über die Anwesenheit von Ausländern in ihrem Bereich als Gäste, Mieter oder Untermieter melden. Ein Brasilianer, der einen ausländischen Besucher auch nur für ein paar Tage beherbergt, muß darüber Meldung erstatten.

Mitglieder der Kirche und der Oppositionsparteien fürchten, daß ein weiterer Schritt nach dem Ausländergesetz Gesetze sein könnten, die auch Inländer einem gleichen Kontrollsystem unterwerfen.

Ein großer bürokratischer Apparat, der Nationale Einwandererrat, wird nach dem neuen Gesetz errichtet werden: eine zusätzliche finanzielle Belastung für ein schwer von der Inflation heimgesuchtes Land.

Um zum Spannungsabbau beizutragen, hat die katholische Kirche, Vorkämpferin der Menschenrechte in Brasilien, sich der Sache der in Brasilien lebenden lateinamerikanischen Exilanten angenommen. Erzbischof D. Paulo Evaristo, Kardinal Arns von Säo Paulo und andere Gegner des Gesetzes haben die Regierung um eine Blanko-Amne-stie für alle im Land lebenden illegalen Einwanderer gebeten, was nach Auffassung der Kirche den guten Willen der Regierung beweisen würde.

- Kardinal Arns verweist auf eine von Argentiniens früherem Präsidenten Juan Perön gewährte ähnliche Amnestie, von der seinerzeit Tausende Lateinamerikaner, auch Brasilianer, profitierten. Der Appell des Kardinals blieb ohne Echo.

Zu einer weiteren ernsten Reizung der Beziehungen zwischen Kirche und Staat trug die Entführung und Folterung des früheren Präsidenten der von der Kirche gegründeten Kommission für Gerechtigkeit und Frieden, Dalmo Dallari, Rechtsprofessor an der Universität von Säo Paulo, bei. Diese Kommission spielt eine wichtige Rolle bei der Verteidigung politischer Häftlinge, was zu Reibungen mit der Regierung führen mußte.

Dallaris Entführung erfolgte während des Papstbesuches und war eine offene Provokation, weil Dallari während der Papstmesse am folgenden Tag die Lesung hätte vortragen sollen. Er war schon Monate vorher während eines Metallarbeiterstreiks gesetzwidrig festgenommen und ohne Erklärung wieder freigelassen worden. Seine späteren Entführer wurden nie identifiziert.

Dieses grimmige Szenarium hat zu einer neuen Welle des ultrarechten Terrorismus geführt. Gleich nach dem Papstbesuch zerstörten Extremisten Zeitungskioske, die linke Publikationen verkaufen.

In jüngster Zeit wurde ein jüdischer Kindergarten in Säo Paulo in der Nacht attackiert und zerstört. Die Täter malten Hakenkreuze auf eine Tafel. Glücklicherweise befanden sich keine Menschen in dem Gebäude.

Es gibt keine H inweise darauf, daß es zwischen den Kioskattentaten und dem Naziterror Verbindungen gibt, aber das Klima der Anarchie begünstigt solche Akte. Für die Kioskzerstörung übernahm eine sich „Falange Pätria Nova" („Neue Phalanx des Vaterlandes") nennende Organisation die Verantwortung. In Briefen an Zeitungen gelobten sie, „den Kommunismus zu bekämpfen".

Noch gab es keine Verhaftungen. Die Wirkungslosigkeit der Polizei wurde sowohl von der Kirche wie auch von der Brasilianischen Juristenkommission scharf gerügt. Auch andere Gruppen wiesen darauf hin, daß die Behörden in der Vergangenheit bei der Verfolgung linker Aktivitäten sehr effizient waren, bei der Verfolgung von Rechtsextremisten aber Unfähigkeit zeigten.

Am 27. August erreichten die Gewaltakte den bisherigen Höhepunkt, als anläßlich des Jahrestages einer Amnestie Tür politische Dissidenten zwei Briefbomben, eine Neuheit in der brasilianischen Terror-Technologie, in Rio explodierten.

Eine zerstörte das Büro eines linken Stadtratsmitglieds, wobei ein Mann zum blinden Krüppel wurde, und die zweite riß das Hauptbüro der Brasilianischen Juristenorganisation nieder, wobei ein Angestellter den Tod fand: die ersten Opfer der sogenannten „ab-ertura" („Wiederöffnung des politischen Prozesses") in Brasilien.

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