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Kirche und Sonne

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Zu einem sensationellen Ergebnis kam eine astronomische Untersuchung über die bauliche Orientierung des Wiener Stephansdomes. War bisher nicht bekannt, warum der Dom in seiner Achsenausrichtung nicht exakt nach Osten weist, sondern zirka 35 Grad nach Süden abweicht, so konnte jetzt die Wiener Astronomin Univ.-Doz. Maria Firneis nachweisen, daß der ursprünglich romanische Dom — nur noch die Westfront mit dem Riesentor ist sichtbar — nach dem Sonnenaufgang des Stephanitages (26. Dezember) um das Jahr der Grundsteinlegung (ca. 1140) ausgerichtet war. Die „Ostung" der Kirchenbauten hat ihren Grund in der Christussymbolik, nach der der Auferstandene als „Sonne der Gerechtigkeit und des Heils" bezeichnet wird und nach alter Tradition die Wiederkunft Christi ebenfalls von Osten her erwartet wurde.

Daß die Fundamente des Stephansdomes und anderer Kirchen nicht immer exakt nach Osten weisen, war längst bekannt. Nur eine Erklärung dieser Tatsache konnte bisher noch nicht gefunden werden. Durch eine zufällige Entdeckung an der Wieselburger Ulrichskirche ermutigt, erstellte Doz. Firneis darüber eine Theorie. Danach sei es eine häufige Praxis der Kirchenerbauer gewesen, die Kirchenorientierung nach Richtung des Sonnenaufgangs am Festtag des Kirchenpatrons oder zu einem anderen kirchlichen Fest zu bestimmen.

Um nun den Tag der Ostung der Kirche nachträglich feststellen zu können, sind laut Firneis zwei we-

sentliche Daten wichtig: Die exakte Kenntnis des Sonnenstandes im damaligen Jahrhundert und die Daten der Festtage gemäß dem damals noch im Gebrauch befindlichen Julianischen Kalender.

Firneis hat auch noch andere Kirchen in Wien vermessen. Für Wiens älteste Kirche, St. Ruprecht, haben sich bisher keine Anhaltspunkte für eine Orientierung nach einem Heiligen- oder kirchlichem Hochfest finden lassen. Vielmehr dürfte das romanische Kirchlein parallel oder sogar über den Fundamenten eines römischen Hauses oder Tempels errichtet worden sein.

Bei der Virgilkapelle, die während der U-Bahnarbeiten unterhalb des Stephansplatzes freigelegt wurde, trifft die Theorie von Firneis jedoch wieder zu. Die Kapelle richtet sich exakt nach der aufgehenden Sonne des 13. Oktober 1250, dem Fest des heiligen Koloman.

Der Wiener Kirchenhistoriker Univ.-Prof. Josef Lenzenweger hat diese Theorie an Hand alter Dokumente erhärtet. Der Babenberger-Herzog Friedrich II. der Streitbare beabsichtigte ein Wiener Bistum einzurichten. In diesem Zusammenhang sollten die Gebeine des Heiligen Koloman von Melk nach Wien überführt und an würdiger Grabstätte beigesetzt werden. Damit dürfte die erst später dem Salzburger Heiligen Virgil geweihte Kapelle — sie liegt 13 m unter dem Niveau der Stephanskirche — ursprünglich als Kolomankapelle errichtet worden sein.

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