Ferien von der Geschichte

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Europa und seine Krisen - einmal anders gesehen.

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Europa und seine Krisen - einmal anders gesehen.

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Europa hatte „Ferien von der Geschichte“, eine treffende Formulierung, die ich von Régis Debray übernehme. Diese Ferien sind zu Ende gegangen; zuerst stückweise, zuletzt umfassend. Es gab Momente, in denen man den Eindruck gewinnen konnte, dass die Europäer(innen) diesen Sachverhalt begriffen hätten. Mittlerweile darf man zweifeln. Nach der erneuten Weltwirtschaftskrise 2008 war man irritiert von der eigenen Blindheit, aber die Krise konnte bewältigt werden. Die Epoche der Gelderfindung durch Zentralbanken wurde damals eingeleitet, die (ökonomische und politische) Krise der mediterranen Länder wurde offenbar, ebenso die Unsicherheiten Osteuropas und des Balkans. Dann verdichtete sich die Krisenabfolge. Flüchtlingskrise. Brexit.

Es folgte die Coronakrise. Schließlich die Ukraine-Krise. Inflationskrise. Gaskrise … Putin wartet: Der Westen sei krisenanfällig, wohlstandsverwöhnt, jammerfreudig. Programmiert auf das „Brot-und-Spiele-Modell“. Deshalb unfähig, auch nur kurze Zeit „Verzicht“ zu üben. Was empirisch im Globalvergleich ohnehin nur bedeuten würde: vom ganz reichen zum ziemlich reichen Niveau abzufallen; vielleicht zwanzig Jahre in der Entwicklung zurückgestuft zu werden (und damals herrschte keineswegs Verelendung).

Putin hält den Westen, der seine eigenen Überlebensvoraussetzungen nicht mehr versteht, für dekadent. Inkompetent zur Krisenbewältigung. USA im Abstieg. Europa schwach. Für Russland ist der Rücken frei, das sollte für seine Hegemonie reichen. Die unerwartet kräftige Abwehrgeste Europas scheint ja auch schon wieder zu bröckeln: Wenn Unbequemlichkeiten drohen, wird Anständigkeit schnell zur Disposition gestellt. Wenn die Europäer nicht begreifen, dass die Ferien von der Geschichte zu Ende sind, werden sie es spüren.

Der Autor ist Professor für Soziologie an der Universität Graz.

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