Mit Halbwissen leben

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Neben dem ignoranten Halbwissen gibt es eine objektive, „natürliche“ Halbwissenslage. Wir haben begrenztes Wissen: wie die Dinge beschaffen sind, wie sie zusammenhängen, wie unbeabsichtigte Nebeneffekte von Maßnahmen wirken und was am Ende herauskommt. Fatalerweise müssen wir mit dieser unzulänglichen kognitiven Ausrüstung wesentliche Probleme der Menschheit bearbeiten. Wir können auf Wissensaufbau und -anreicherung oft nicht warten: Entscheidungen unter Zeitdruck.

In der Epidemie war unser Wissen über Virus, Krankheit, Infektion und Behandlung zunächst rudimentär und wurde erst im Laufe der Erfahrungssammlung besser. Dennoch musste man auf unzulänglichem Wissensstand Entscheidungen treffen und diese nachkorrigieren. Und vieles wissen wir immer noch nicht.

Bei der Klimafrage ist es nicht anders: Wissenslücken, langsam steigendes Bewusstsein. Doch möglicherweise werden auch heute manche falschen Entscheidungen getroffen. Die globale Kooperation scheitert. Doch die Zeit drängt.

Bei der Digitalisierung haben wir bereits manche Irrtümer erlebt: Das Netz hat man als umfassende Informationsquelle und als Partizipationsinstrument imaginiert; in Wahrheit wächst (aus strukturellen Gründen) die Desinformation schneller als das solide Wissen.

Reaktionen auf die Wissensvagheit sind oft bornierte Fundamentalisierung oder radikale Wissensverwerfung. Doch zurück zur geschlossenen Wissenswelt geht es nicht, und Bauchgefühl reicht nicht. Wir müssen mit einer komplexen Welt zurechtkommen, mit ihrer Ambiguität und Fluidität, in kluger Abwägung verfügbarer Wissenselemente, im Wissen um die Vorläufigkeit. Das ist unbehaglich, aber anderes haben wir nicht.

Der Autor ist Professor für Soziologie an der Universität Graz.

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