Tugendwächter

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Im eigenen Verhalten Tugendhaftigkeit anzustreben, ist wichtig; sich als Wächter über die Tugend anderer berufen zu fühlen, ist fragwürdig. Eine Betrachtung.

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Im eigenen Verhalten Tugendhaftigkeit anzustreben, ist wichtig; sich als Wächter über die Tugend anderer berufen zu fühlen, ist fragwürdig. Eine Betrachtung.

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Vielleicht war es dem Schock über das Verhalten von Kollegen geschuldet oder ironisch gemeint: Anlässlich der Abberufung zweier Chefredakteure wegen peinlicher Chats postulierte jedenfalls ein anderer Chefredakteur in einem Leitartikel, dass „wir Tugendwächter“ besonders tugendhaft zu sein hätten.

Diese Formulierung steht zwar in der Tradition der goldenen Regel, die von einem selbst Verhalten nach jenem Maßstab fordert, den man an andere anlegt, doch befremdet das berufliche Verständnis, das in der Bezeichnung „Tugendwächter“ mitschwingt: Kommt Journalisten in einer demokratischen Gesellschaft wirklich diese Rolle zu?

Die Krux beginnt mit der Frage, welches Verhalten als tugendhaft zu bewerten ist, setzt sich bei der Legitimation zur Feststellung der Tugendhaftigkeit fort und mündet in die Frage, ob die Öffentlichkeitswirkung des Journalismus nicht Zurückhaltung in der Beurteilung von Verhalten nach so subjektiven Maßstäben, wie es der Tugendbegriff ist, erfordert. Gibt es hier eine objektive Richtschnur?

Ich bin zwar fest davon überzeugt, dass sich gerade Personen, die in der Öffentlichkeit stehen, selbst dem Anspruch der Tugendhaftigkeit stellen und ihr Verhalten danach reflektieren und messen sollen; auch steht Kritik zu, wenn jemand die selbstgewählten Ansprüche verfehlt. Man kann sich jedoch des Eindrucks nicht erwehren, dass immer mehr Menschen nicht nur demokratisch legitime Diskurse führen, sondern ihre eigene Auffassung als verbindlich verstehen und sich zur Verfolgung von Verfehlungen anderer berufen fühlen.

Im eigenen Verhalten Tugendhaftigkeit anzustreben, ist wichtig; sich als Wächter über die Tugend anderer berufen zu fühlen, ist fragwürdig – gerade wenn man seine Sicht mit der Gewalt öffentlichen Impacts verbreiten kann.

Der Autor ist Professor für Arbeits- und Sozialrecht und Leiter des Instituts für Familienforschung.

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