7053421-1991_09_13.jpg
Digital In Arbeit

Kleine Geschichten

Werbung
Werbung
Werbung

Das erste Festival, bei dem die Integration des Ostteils der Stadt Wirklichkeit war; einem Akkreditierungsboom seitens der Journalisten entsprach keine Steigerung seitens des Filmangebots. „Realismus” ist im europäischen Kino der neunziger Jahre zu einem sehr vielschichtigen Begriff geworden. Die Geschichten von der Liebe und den Sehnsüchten sind von der Leinwand fast verschwunden. Es herrscht eine nahezu beklemmende Nüchternheit und die harten Töne des Lebens sind geblieben: in der Familie („Le Miracle”, „Der kleine Gangster”), in den Versuchen, über Vergangenes zu sprechen („Uranus”).

Selbst Francis Ford Coppolas „Der Pate III” orientiert sich ziemlich genau an historischen Fakten, wobei die katholische Kirche das Ihre abbekommt. Die „wahren Geschichten” entbehren in der Tat keine historischen Belege: sei es der Skandal um die Vatikanische Bank („Der Pate III”), sei es die Geschichte des ehemaligen schwedischen Botschaftssekretärs Raoul Wallen-berg („Guten Abend, Herr Wallen-berg”), der 1944 in Budapest rund 100.000 Juden innerhalb weniger Wochen das Leben gerettet hat, seien es die Auseinandersetzungen zwischen den Kollaborateuren und Widerstandskämpfern in Frankreich nach dem Faschismus („Uranus”).

Im Gegensatz zu vergangenen Jahren spielten die Amerikaner im

Wettbewerb eine geringere, wenn auch nicht unbedeutende Rolle. Geschichtsaufarbeitung im Kino empörte angesichts des Golfkrie-ges junge Friedensbewegte in Berlin, wobei es sich um eine Fehleinschätzung des Mediums Film handelt, der ja nur langsam reagieren kann.

Der sogenannte Realismus, die Bezogenheit auf historische Fakten, wird von Filmemachern nur allzu gerne als Stofflieferant, als Vorwand benutzt, aus ökonomischen Zwängen ebenso wie aus des-illusionierter Hilflosigkeit. Die „kleinen” Geschichten ließen aufhorchen: Ein Elfjähriger sucht auf dem Weg zu seiner neu entdeckten Schwester, deren Existenz ihm seine Mutter verschwiegen hatte, eine neue Identität. Er entführt einen Polizisten, langsam erst gewinnt er wieder Boden unter den Füßen und stellt sich der Polizei („Der kleine Gangster”). Eine Geschichte, diena-türlich nicht alltäglich ist, aber real. Sie erhielt den OCIC-Preis der Katholischen Film-Jury.

„Der Tangospieler” von Roland Graf ist ein weiteres Beispiel einer unspektakulären Geschichte, scheint zehn Jahre zu spät gekommen zu sein. Seit die Berliner Mauer abgebaut'wurde, wirken DDR-Geschichten wie diese wehleidig. Der Assistent Dallow wird aus dem Gefängnis entlassen, in dem er wegen „Staatsverleumdung” gesessen ist. Sich keiner Schuld bewußt, lehnt er vorerst den Wiedereinstieg in die Gesellschaft ab, scheitert in seiner Ablehnung und bleibt eine -farblose Figur. Die geschichtlichen Ereignisse überrollen das eben nur langsam reagierende Kino.

Selbst im Genre des Indianerfilms wird eine neue, differenziertere Sprache angewendet. Keven Cost-. ners „Dermitdem Wolf tanzt” zeigt die Indianer nicht als eine Horde von Wilden, sondern einzelne Gesichter, Individuen. Zwischen einem Sioux-Stamm und dem Offizier John J. Dunbar entwickelt sich eine sensible Freundschaft, die bisherige zementierte Indianerklischees aufbricht. Auch in Costners Film geht, immer wenn Indianer reiten, die Sonne unter. Schade.

Das neue sowjetische Kino ist gerade wegen der nun möglichen Freiheit in eine Krise geraten. Eine Ausnahme macht Alexander Soku-rows „Der zweite Kreis”, ein unwahrscheinlich sensibler Film, der trotz sperriger Ästhetik sehr fundamentale geistige Defizite der sowjetischen Geeilschaft anspricht. In Viktor Aristows Film „Der Satan”, dem einzigen sowjetischen Wettbewerbsbeitrag, steht die Entführungsgeschichte zu sehr im Vordergrund, Aristows moralische

Anliegen werden nicht genügend deutlich.

Mit „Der Garten” bringt Derek Jarman seine Jesusgeschichte auf die Leinwand, ein Film, der mit seinen widersprüchlichen, assoziativen Bildern den Garten Eden mit Gethsemane gleichstellt. Trotz zahlreicher Polemiken ist an der Ernsthaftigkeit dieses Versuchs nicht zu zweifeln.

Von den österreichischen Beiträgen, die im Forum des jungen Films zu sehen waren, konnte Ruth Bek-kermanns „Nach Jerusalem” noch am ehesten überzeugen. Durch den Golf krieg gerät er natürlich in eine zwiespältige Situation. Einmal mehr bestätigte sich der gute Ruf des österreichischen Kurzfilms (unter anderem waren Harald Ertls „Schönberg”, Paul Harathers „Warten” und Tobias Urbans „Arl-bergtunnel” zu sehen).

Die Konzentration auf den eüropäischen Film machte sich bedauerlicherweise auch im Rückgang von Filmen aus Dritte-Welt-Ländern bemerkbar. Als Signal wofür?

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung