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Kleine Legende vom Leid

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Niemand wollte das Leid haben. Gott hatte es kaum geschaffen, es war noch sehr jung, fast noch ein Kind, eins von jenen ungeliebten oder unerwünschten Kindern, die selbst nicht recht wissen, wozu sie da sind. Unsicher, nicht wissend, was es mit sich anfangen sollte, legte es sich

als Last jedem in die Hände. Es hängte sich an diesen und jenen mit der beschwerlichen Leidenschaftlichkeit der Unreife, aber alle trachteten rasch und brutal, es loszuwerden und zum Schweigen zu bringen.

Die Menschen fanden, daß das Leid alles verkehrt machte. Es tat ihnen nicht nur weh, sondern es zerstörte auch noch das Pathos des Leidenden häufig durch seine kindische Heftigkeit, es klammer-

te sich rücksichtslos fest und verzerrte so auch das Erhabene menschlicher Trauer manchmal zu ungewollter Groteske. Schön war es auch nicht, es war blaß, mager und zudringlich, so ist -es begreiflich, daß keiner es haben wollte.

Fand es einmal jemanden, der viel Geduld und einen breiten Rücken hatte, so besprang es ihn wie ein rauflustiger Range und wollte endlos getragen sein. Die Tragenden wurden stumpf unter der Last, nach einiger Zeit wandten sie kaum noch den Kopf nach dem lästigen Balg und trotteten weiter. Da wurde das Leid bösartig wie ein Kind, das nie beachtet und dessen Recht zum Dasein nicht gewertet und anerkannt wird. Es stieß und schlug auf die

Tragenden ein, bis sie es grob abwarfen.

Endlich kam das Leid an den Menschen, für den es eigentlich bestimmt war. Er begriff, daß es nichts nützt, ein Leid abschütteln zu wollen und nichts hilft, es achtlos mit sich herumzuschleppen. Er begann das Leid eingehend zu beobachten und fragte es, was es eigentlich von ihm wolle. Da entdeckte er einen matten Schimmer auf dem aschenblonden Haar, und in den harten, hungrigen Augen sah er eine verborgene Tiefe, und als er immer intensiver es zu ergründen trachtete, fand er in der eckigen Gestalt da und dort Zeichen und Spuren, aus denen er schloß, daß es vielleicht ein Kind Gottes sein könne. Es war vielleicht nur verzaubert, es war eine der verwunschenen

Vollkommenheiten, die nur durch Liebe erlöst werden können. So schien es zumindest diesem Menschen. Und das Leid nistete sich bei ihm ein und blieb.

„Daß du nun einmal bei mir wohnst, dagegen ist nichts zu machen, das sehe ich schon", sagte der Mann. „Ich werde dich eben hinnehmen müssen, aber ich will dich erziehen. Ich werde schon mit dir fertig werden."

Während er sich alle Mühe gab, den verwahrlosten Balg zu erziehen, lernte er, sich in Geduld zu fassen, aber er gewann dabei auch Kraft und Zuversicht und das Gefühl, daß all dies doch nicht sinnlos sein könne. Das ging so einige Jahre, und das Leid wandelte sich. Es wurde stiller und war nicht mehr ganz so wild wie im Anfang.

Als er sich eines Tages in den Spiegel sah, merkte er, daß auch er anders geworden war. Im Grunde hatte er sich selber erzogen und verstand nun nicht nur das Leid, sondern auch sich selber und die anderen Leidtragenden und die ganze Welt anders. Kräftiger war er geworden, sein Gesicht war beim Altern schöner geworden, nicht im modischen oder äußerlichen Sinn, aber menschlich anziehender. Er hatte nun selber schon jenen silbernen Schimmer auf dem aschenblonden Haar, und die eingesunkenen Augen glänzten von einer geheimnisvollen Tiefe. Da freute er sich.

Und als er sich vom Spiegel abwandte, war das Leid verschwunden. Es war erlöst, denn es hatte sich in innerliche Freude verwandelt

Sind nicht im Grunde alle Vollkommenheiten verwunschen und uns zur Erlösung anvertraut?

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