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Kleiner Traktat über die Zeit

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Entweder vergeht sie zu langsam — oder zu schnell. Sie kommt einmal zu spät, sie kommt einmal zu früh, sie hält uns immer zum Narren. Ich kenne nichts Unpünktlicheres als die Zeit. Haben Sie auch so viel Ärger mit ihr?

Da ist, zum Beispiel, der Kalender. Er stimmt einfach nicht. Der Kalender ist eine Fälschung. Oder sind Sie wirklich so alt wie Sie sind? Na bitte. Kein Mensch beginnt sein Leben als Kind und beschließt es als Greis. Waren Sie

nicht eben noch vierzig und sind jetzt siebzehn, neunzig oder acht? Wie Planeten um eine Sonne, drehen sich die Jahre um uns. Zeit ist ein Tanz.

Uberlassen Sie sich seinem Rhythmus. In jedem Jahr sind alle Jahre Ihres Lebens enthalten. Was sich wandelt, ist die Beleuchtung, Ihre eigene Aufmerksamkeit. Wir müssen die Jugend nicht zurücksehnen, sie hat uns niemals verlassen. Wir müssen das Alter nicht mit Angst und Sorge erwarten, denn es war immer schon da. Zeit ist keine Folge von Ereignissen, sondern von Wahrnehmungen: kein äußerer, sondern ein in-

wendiger Prozeß.

Haben wir das begriffen, so fällt sie uns leicht wie das Atmen, so können wir sie wie den eigenen Herzschlag vergessen. Welche Bedrohung könnte die berüchtigte middlelife-crisis noch für uns sein? Das ist, als würden Sie sich vor der Mitte des mehr oder weniger spannenden Romans fürchten, den Sie eben lesen. Als wollten Sie seine Lektüre auf den Anfang beschränken und lieber nicht wissen, wie die Geschichte weitergeht.

Wer den Versuch unternimmt, die eigene Jugend zu prolongieren, gleicht diesem ängstlichen Leser. Er verbeißt sich in ein Kapitel und weigert sich, das Buch seines Lebens umzublättern. Aber so wird er nichts verstehen, am wenigsten sich selbst, und am Ende verwirrt, unbefriedigt und zutiefst deprimiert sein.

Sind Sie zufällig gerade in der Mitte des Lebens? Dann hören Sie bitte nicht auf, neugierig zu sein. Das Abenteuer ist nicht zu Ende, das ist es nie. Am interessantesten, am überraschendsten, am schönsten ist, wie im Theater, der

dritte Akt. Vorausgesetzt, Sie sind nicht an einen schlechten Autor geraten. Das wollen wir aber nicht hoffen, denn die Autoren unserer Schicksalskomödie, unserer Schicksalstragödie sind immer wir selbst.

Natürlich muß einem für den dritten Akt etwas einfallen. Fahren Sie einfach damit fort, zu tun, was Sie bisher getan haben. Wenn der dritte Akt nicht besser, wenn er keine Steigerung alles Bisherigen — und das heißt manchmal: seine Umkehrung — ist, dann fallen Sie, und war es bis zur Pause auch noch so hübsch, schonungslos durch.

Erlauben Sie, daß ich Ihnen ein paar Ratschläge für den dritten Akt gebe? Eine Dramaturgie der Zeit, die ein Geheimnis ist und ebenso wenig meßbar wie der Traum.

Sie schrumpft nämlich, und sie dehnt sich gleichzeitig aus. Ein Paradoxon, das ich später erkläre. Das Schrumpfen der Zeit erzeugt Angst, und die Ausdehnung Langeweile. Langeweile und Angst, das ist eine verflixte Mixtur. Sie vergiftet Seele und Leib.

Man möchte die Zeit festhalten und vertreiben zugleich, und gerät in einen Zustand panischer Lähmung.

Die Zeit, sagten wir, schrumpft. Tatsächlich scheint sie in der zweiten Lebenshälfte schneller und immer schneller zu vergehen. Dies kommt daher, daß unser Leben nun hauptsächlich aus Wiederholungen besteht. Früher einmal taten wir alles zum ersten Mal — und heute beinahe nichts mehr. Beruf und privates Leben sind zur Routine erstarrt. Die Tage, die Jahre gleichen einander, wir bemerken sie kaum. Die Zeit läuft leer.

Darum vergeht sie so schnell, darum vergeht sie so langsam. Aber es gibt ein Mittel dagegen, einen Zauber. Wenn Sie ihn anwenden, sind Sie erlöst. Treten Sie aus der Zeit! Sie tun es bereits, wir alle tun es im Schlaf und im Traum. Tun Sie es wachend.

Wir können es auch anders erklären. Nach dem zweiten Akt ist, im Theater, gewöhnlich die Pause. Das Licht auf der Bühne geht aus, und im Zuschauerraum wird es hell. Wir verlassen das Drama,

wir verlassen sogar den Zuschauerraum. Zwischen dem zweiten und dritten Akt sind wir privat.

Verstehen Sie, was ich meine? Diese Pause ist das Heraustreten aus dem Spiel, aus der Zeit. Jetzt sind wir wir selbst und sonst nichts.

Wer sich, seiner selbst inne geworden, nun wieder der Zeit, dem Spiel, dem dritten Akt überläßt, steht über dem Spiel und der Zeit, ist drinnen und draußen, im Theater und außerhalb des Theaters zugleich. Er lacht über die Komödie, er weint über die Tragödie, aber gleichzeitig weiß er, daß es ja bloß Tragödie oder Komödie ist.

Die Erkenntnis der Pause ist es, die Kinder zu Erwachsenen macht, Erwachsene zu Kindern, und beide zu etwas, das jenseits von beiden ist. Wegen der Pause sind wir ins Theater gegangen, wegen der Pause sind wir auf die Welt gekommen; das wichtigste am Spiel ist die Pause.

Und die Zeit? Sie haben es schon erraten. Zeit ist Spielzeit und weiter nichts. In der Pause ist sie ein Luftballon. Lassen Sie ihn fliegen.

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