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Kleines Wunder im frühen März

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Uber Nacht müssen sie aufgeschossen sein aus der klebrigen braunen Erde, zwischen den während des Winters abgefallenen dürren Birkenzweigen und den mageren Waldgrasbüscheln, gestern noch habe ich nichts von ihnen bemerkt. Oder habe ich nur nicht aus dem Fenster geschaut, bin achtlos an ihnen vorbeigegangen, als ich von der Straßenbahn heimkam.

Es war ein trüber Tag, bei schlechtem Wetter öffnen sich ihre Kelche nicht, die schmalen blassen Spießchen, die sie an solchen Tagen aus dem Boden rek- ken, übersieht man leicht. Heute aber, in der Helligkeit des Vormittags, haben sie sich entfaltet. Hunderte sechsstrahliger Blütensterne, blaßlila bis tiefviolett, dazwischen einige dottergelbe und elfenbeinweiße, weit ausgebreitet biegen sie sich auf zarten Stielen dem Licht entgegen, in der Mitte jeder Blüte leuchtet safrangelb das Staubgefäß.

Jedes Jahr dieses Wunder auf dem Erdfleckchen vor meinem Küchenfenster, das wir Vorgarten nennen, gleich daneben, hinter dem Holzlattenzaun, hart am Rand des asphaltierten Gehsteigs, parken in langer Reihe die Wagen, gegenüber ragen die glatten Fassaden der Wohnblocks einer Satellitenstadt.

Auf dem grauen Band der Straße rollen die Autos vorbei, Leute, die ich nicht kenne, ziehen mir unbekannten Zielen entgegen, sie starren geradeaus durch die Windschutzscheiben, haben keinen Blick für das Wunder, das sich vor meinem Fenster ereignet hat. Hin und wieder nur bleibt jemand, der zu Fuß unterwegs ist, stehen und wirft einen Blick über den Zaun, eine Hausfrau stellt ihre Einkaufstasche nieder, ein Pensionist, der mit seinem Hund unterwegs ist, verharrt einen Augenblick, Kinder mit Schultaschen auf dem Rücken staunen, über die Gesichter breitet sich Lächeln aus.

Wir sind nicht verwöhnt, hier, am nördlichen Rand der Stadt. Der Wind treibt von Menschen achtlos Weggeworfenes durch die Straßen, Autofahrer kippen den Inhalt ihrer Aschenbecher auf die Gehsteigkanten, Papierfetzen wehen uns vor die Haustüren, manches wirft man uns einfach über die Gartenzäune. Die städtischen Straßenreiniger haben zu tun. Trotz allem aber, trotz Abgasgestank und Chemiegeruch, der uns bei Ostwind überfällt, entfalten die Krokusse jedes Jahr zur Osterzeit ihre zartfarbigen Blütenkelche zu immer gleichbleibender Pracht.

Warum erzähle ich das? Es gäbe wichtigere Themen in dieser Zeit. Aus allen Richtungen kommen sie auf uns zu, fallen uns an, würgen uns, ängstigen uns. Überall in der Welt werden Kreuze errichtet, nicht nur zu Ostern. Ein ewiger Karfreitag, bis heute, wie damals auf Golgatha.

Täglich legen wir Ihm das Kreuz auf die Schultern und jagen Ihn durch die Straßen, reichen Ihm, wenn Ihn dürstet, den in Essig und Galle getauchten Schwamm, täglich stoßen wir Ihm die Lanze ins Herz. Täglich verleugnen wir Ihn, in jeder Minute wird Er millionenfach verraten. Wir sind dabei, die Welt zu zerstören. Wir fürchten für die Zukunft unserer Kinder. Wir sind sehr einsam geworden in unserer Angst.

In meiner Kinderzeit flogen die Glocken am Gründonnerstag nach Rom. Sie flogen aus den Fenstern des Kirchturms, über die Weingärten hinweg, die Ratschenbuben verursachten einen Heidenlärm, der Kaplan ritt mit den jungen Bauern über die Felder, die Fluren zu segnen. Die ärgsten Lausbuben der Stadt knieten lammfromm und bewachten das Heilige Grab.

Wir gingen mit Körbchen aus- Maisstroh zu den Häusern unse rer Verwandten, schlugen mit Weidenruten an die Türen und verlangten singend ein rotes Ei. Auf dem Bild, das über meinem Bett an der Wand hing, geleitete ein lockenköpfiger Engel zwei kleine Kinder sicher über einen glitschigen Steg, der über eine Felsschlucht führte, darunter, in der Tiefe, rauschte ein Bach. In der Gegend, in der ich damals lebte, gab es solche Felsschluchten nicht, auch keine rauschenden Bäche, daher keine Stege, aber hätte ich einen solchen betreten, wäre der Engel aus dem Rahmen des Bildes gestiegen und hätte mich vor dem Absturz bewahrt.

Warum nur denke ich das? Ich weiß doch, daß ich nichts verändern kann. Die Engel haben uns längst verlassen. Selbst jene lolę- kenköpfigen, barfüßigen Schutzengel in ihren pastellfarbenen Kleidern, die uns über die schmalen Brücklein führten, gibt es nicht mehr, wir haben sie in unserem Hochmut verjagt. Niemand geleitet uns mehr über Stege, unter denen Abgründe gähnen, niemand behütet uns vor dem Bösen. Wir haben die Lilien längst von den Feldern verdrängt. Wir ernten und ernten. Wir sind dabei, das Wort zu vergessen und allein vom Brot zu leben, aber wir teilen es nicht mit den Ärmsten unserer Brüder. Leben war uns zugedacht, wir wählten den Mord. In jeder Sekunde versuchen wir Gott.

Wozu nur sage ich das? Es ist ein Selbstgespräch, das ich führe. Kein einziges Haar auf meinem Kopf wird dadurch seine Farbe verändern. Die Sprache ist schal geworden, womit soll ich nun reden? Die falschen Propheten gehen durch die Straßen, wir sind nicht imstande, sie aufzuhalten.

Ihre Schafskleider sind nach modischen Schnitten genäht, heimtückisch tarnen sie damit ihre Wolfsnatur. Sie reden mit sanf-

ten Stimmen, und man hört ihnen zu. Sie klopfen mit geschmeidigen Fingern an die Türen, und es wird ihnen aufgetan. Sie tragen Masken aus Menschenhaut und dek- ken damit die Lüge zu. Sie haben die Klugheit der Schlange, und die Kaninchen folgen ihnen nach. Es gäbe so vieles, worüber man sprechen müßte. Die Themen, die Sorgen und Ängste all dieser einsamen Menschen, liegen ja auf der Straße, man müßte nur aus den Häusern gehen, um sie aufzuheben.

Sie, die einsamen Gestalten, schlafen nachts auf den Bänken in den Parks und den Bahnstationen, zugedeckt mit den Schrecken der Welt. Sie treffen einander auf Bahnhöfen und fühlen sich fremd unter Fremden. Sie liegen ruhelos in Kammern, und ihre Herzen erfrieren. Sie haben Sehnsucht und gehen aneinander vorbei. Sie liegen in den Nächten wach und hören, wie die Zeit verrinnt, ihre Lebenszeit, die Er ihnen gegeben hat. Sie verleugnen Ihn, sie schlagen Ihn täglich ans Kreuz, in ihren Taschen klimpern die Silberlinge, sie peinigen Ihn, sie verraten Ihn. Sie können trotzdem nicht aufhören, auf Ihn zu hoffen.

In meinem Vorgarten, auf diesem winzigen Fleckchen klebriger Erde, hat sich in diesen Tagen wieder das Wunder ereignet. Die Krokusse, zart- bis dunkelviolett, gelb und elfenbeinweiß, haben ihre kleinen Kelche geöffnet. Uber den Winter hatte ich sie vergessen, jetzt sind sie aus dem Boden geschossen, wahrscheinlich über Nacht, eine Auferstehung nach dunkler Zeit. Bald kommen die Glocken wieder in die Türme zurückgeflogen. Sie werden verkünden, daß Er unter uns ist.

Wir müssen unsere verklebten Augen nur öffnen, uns Ihm wieder zuwenden, wie die vielen kleinen Blütenkelche dem Licht. Ich könnte stundenlang jenseits des Gartenzauns stehen und sie betrachten. Vielleicht ist es töricht, daß ich bei ihrem Anblick etwas wie Hoffnung empfinde. Könnten sie ohne Ihn blühen? Ich denke: Wir müssen uns nur etwas Mühe geben. Wir müssen Ihn nur sehen wollen.

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