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Kollektive Tristesse

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Der US-Präsident Richard Nixon hat die Frage der Verbesserung der Lebensbedingungen in den durch die moderne Technologie über alle Ufer schwappenden Urbanisierungs- und Agglomerationsprozessen in den USA zu einer zentralen Frage seiner neuen Amtstätigkeit erklärt; die sozialliberale Koalition in Bonn hat schon im Wahlkampf angekündigt, neue Überlegungen zur Sanierung der Zustände in den Industriegebieten, Städten und dichten Wohngebieten der Bundesrepublik anzustellen.

In Moskau trat kürzlich ein Komitee zusammen, das Vorschläge zur Umweltsanierung in der Sowjetunion anstellen soll — und das sich selbst bewies, daß Umweltverschmutzung und mangelnde gesundheitliche Versorgung kein Ergebnis des kapitalistischen Systems ist. Und in Nairobi plant die UNO ein eigenes Sekretariat zu errichten, das die weltweiten Probleme der Gefährdung der Menschheit bearbeiten soll.

Wir sind, wie die Dinge liegen, also mitten in einem weltweiten Prozeß einer ganz neuen Dimension der Politik, denn nach der Phase der Registratur der Schäden, die die Zivilisation in ihrer Gesamtheit auf die Menschen — insbesondere in den entwik-kelten Industriestaaten — ausübt, kommt nun die Phase, wo die Politik die Wissenschaft ablösen, ergänzen muß. Biologen, Mediziner, Techniker haben die ersten Daten geliefert, die uns die Dringlichkeit der Sanierung vor Augen führen — jetzt ist die Stunde gekommen, wo es um die politische Bewältigung geht. Auch in Österreich.

Und doch sind wir noch immer auf die Frage des Umweltschutzes als Schlüsselwort für ungesundes Leben fixiert — quasi so, als ob ein Filter in einem Rauchfang oder eine Kläranlage in einem Abfluß das menschliche Leben in einer Großstadt, in einer dichtverbauten Region allein schon verbessern könnte.

Dabei ist die Zivilisation als Ganzes — nicht nur in bezug auf biologische oder medizinische Probleme — längst zum eigentlichen Problem geworden: zunehmende Organisation des Staatlichen führt zu Bürokrati-sierung, zur Gefährdung der Freiheit des einzelnen; das Wohlbefinden angesichts ungelöster Verkehrs-, Wohn-und Siedlungsprobleme ist gestört; das Bildungs- und Kulturleben wuchert nur zur Freizeitindustrie — mit allen psychischen Konsequenzen; Schönheit und Stil verlieren täglich eine Schlacht gegen Häßlichkeit und Scheinrealismus.

Deshalb der Ruf nach einer neuen Qualität des Lebens; deshalb eine neue Dimension der Politik — vor allem in den Städten — und vor allem in Österreich: in Wien.

Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem die weitere Entwicklung eines ehemaligen mitteleuropäischen Juwels, das ein Lebens-, Kultur- und Geisteszentrum war, sich weder zum einigermaßen wohlbehaglichen Biedermeieridyll einer Pensionopolis, noch zum wirtschaftlichen und technologischen Großraum die Faszination für Europas Osten entwickelt. v

Dazwischen aber liegt nicht viel: außer austrocknender Substanz, Lustlosigkeit, Unterdurchschnittlichkeit, Unbehaglichkeit.

Eine neue Qualität des Lebens: der Ansatzpunkt kann sich schlechthin nur in dem Raum entwickeln, in dem fast ein Drittel aller Österreicher lebt, arbeitet, wohnt. Hier ist die Entscheidungsschlacht zu schlagen, ob wir in Hinkunft zwischen Fernheizwerken mit rauchenden Schloten, Baustellen, unmenschlichen Wohnsilos und einem verslumten Stadtkern leben werden — oder ob uns die neue Lebensqualität Prioritäten der Politik gestattet, die sich an einem neuen, alten Menschenbild orientieren und zur Bändigung der ausufernden bürokratischen Zivilisationsseuche führen kann.

Menschenbild: das ist, genaugenommen, ja jenes aristotelische Ideal, nach dem nicht der Mensch der Politik zu dienen hat — sondern umgekehrt. Der christliche Humanismus, der im Abendland die notwendige Fortsetzung für dieses System der Freiheit und freiwilliger Selbstbindung darstellt, scheint heute mehr denn je wieder notwendig, wenn es um die neue Lebensqualität geht. Konsequenterweise kann aber nicht die Gemeinschaft den einzelnen entmündigen und ihm diese neue Phase der Politik als Weg zur individuellen Glückseligkeit aufzwingen — anderseits kann nicht der einzelne inmitten kollektiver Tristesse individuelle Esoterik pflegen, wir brauchen die neue Mitte zwischen Freiheit und Bindung, wenn es um die Bewältigung der neuen politischen Dimension geht.

Eine neue Qualität des Lebens: das ist vorweg ein Soll an die Gesellschaft. Das Haben ist der Ansatz eines bereits ausgeprägten öffentlichen Bewußtseins, das nicht allein ein ökologisches ist, sondern noch unaufgeklärt Unbehagen registriert und dankbar Ansätze zur Beseitigung des Unbehagens zur Kenntnis nimmt.

Notwendiger denn je ist ein Umdenken der Politik: aus der Phase des Wiederaufbaues, der Sättigung eines Nachholbedarfes an Wohlstand, der Gewinn- und Steuermaxi-mierung müssen wir auf das Spektakel faszinierender Zahlen zu verzichten lernen: Quantitäten sind nicht alles. Nicht die Zahl gebauter Wohnungen entscheidet in Hinkunft bessere Lebensqualität, sondern Art, Ausstattung und Möglichkeiten, menschlichen Bedürfnissen besser zu entsprechen. Qualität statt Quantität — Postulat nicht nur noch der Konsumentenwerbung, nicht nur noch Postulat in der Wirtschaftspolitik: nein, auch in der Sozialpolitik, in der Gesundheits-, Bildungs-, Verkehrspolitik; und auch bei der Abfassung neuer Rechtsnormen, Vorschriften, Verordnungen.

Qualität: das meint, sich von der Magie eines Hypertrophismus abzuwenden, der das staatliche Leben immer mehr umgarnt und den Entscheidungsspielraum immer stärker einengt. Immerhin: George Orwells nicht ganz unwahrscheinliches 1984 feiert ja schon in elf Jahren Neujahr.

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