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Kollektivschuld nach vierzig Jahren?

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1978 jährten sich zum vierzigsten Male zwei Gedenktage: der Überfall auf Österreich vom 11. März 1938 und die sogenannte „Kristallnacht“ am 9. November des gleichen Jahres. Beider historischen Ereignisse wurde gebührend gedacht. Das ist um so mehr ein erfreulicher Tatbestand, als es nach 40 Jahren wohl das letzte Mal gewesen sein dürfte, daß diese Dinge zum Anlaß offizieller Veranstaltungen gemacht wurden. Ab nun werden es nur mehr die Zeitgeschichtler sein, die darüber forschen und berichten; die Zeitgenossen werden immer weniger und in Kürze nur mehr zu denjenigen zählen, derer man sich vielleicht noch erinnert.

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1978 jährten sich zum vierzigsten Male zwei Gedenktage: der Überfall auf Österreich vom 11. März 1938 und die sogenannte „Kristallnacht“ am 9. November des gleichen Jahres. Beider historischen Ereignisse wurde gebührend gedacht. Das ist um so mehr ein erfreulicher Tatbestand, als es nach 40 Jahren wohl das letzte Mal gewesen sein dürfte, daß diese Dinge zum Anlaß offizieller Veranstaltungen gemacht wurden. Ab nun werden es nur mehr die Zeitgeschichtler sein, die darüber forschen und berichten; die Zeitgenossen werden immer weniger und in Kürze nur mehr zu denjenigen zählen, derer man sich vielleicht noch erinnert.

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Wir haben in den letzten acht bis zehn Jahren das Phänomen erlebt, daß rund 30 Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges plötzlich das allgemeine Interesse an den geschichtlichen Ereignissen dieser makabren Zeit mächtig anschwoll. Seither erschienen zahlreiche geschichtliche Werke, wurde der Büchermarkt mit einer Flut von NS- und Kriegsliteratur überschwemmt, und machten Filme, die in dieser Zeit spielen, volle Kassen.

Fragt man sich nach den Ursachen dieses plötzlich aufgekommenen Interesses an historischen Ereignissen, die ein Teil der Bürger noch selbst erlebt hat, so wird man unter den vielleicht sonst möglichen Antworten wohl auch die geben müssen, daß alles, was mit dem Nationalsozialismus zusammenhängt, lange Zeit bei vielen Zeitgenossen tabu war, weil - wie man so schön sagt - diese ihre eigene Vergangenheit nicht bewältigt hatten.

Wie steht es nun mit dieser sogenannten „Bewältigung“ der NS-Vergangenheit, vor allem auch mit dem, was man unter der Kollektivschuld verstanden hat oder noch immer versteht? Muß, oder besser gesagt, kann man seine eigene Vergangenheit bewältigen, oder gibt es das gar nicht?

Um diese Frage beantworten zu können, muß man wohl zuerst erklären, was man unter dem Wort „bewältigen“ verstehen will. Im Zusammenhang mit unserem Thema wird man unter Bewältigung der eigenen Vergangenheit entweder das Eingeständnis einer Schuld und die Bereitschaft, sie zu sühnen, oder bloß eine objektive Darstellung historischer Geschehnisse verstehen müssen. Das bedeutet aber auch einen Zusammenhang mit dem Begriff der „Kollektivschuld“.

Daß sich das deutsche Volk mit diesem Fragenkomplex besonders schwer getan hat, braucht nicht näher erörtert zu werden. Den Deutschen wäre es aber sicherlich leichter gefallen, wenn man nicht sie allein vor diese Fragen gestellt hätte. Wenn man schon von Kollektivschuld spricht, dann hätte eine ganze Reihe historischer Fakten miterörtert wer-

Man müßte auch über das Achselzucken der Welt am 11. März 1938 reden

den müssen. So etwa der Kotau, den die ganze Welt bei den Olympischen Spielen 1936 vor dem deutschen Diktator gemacht hat, von dem man zu diesem Zeitpunkt immerhin schon wußte, daß auf seinen Befehl zwei Jahre vorher, nämlich am 30. Juni 1934, im Deutschen Reich mehr als 500 „mißliebige“ Personen bei Nacht und Nebel umgebracht wurden.

Wenn man von Kollektivschuld spricht, müßte man auch über das Achselzucken reden, das die einzige Antwort der Welt auf den Uberfall auf Österreich am 11. März 1938 gewesen ist. Wenn man von Kollektivschuld spricht, hätte auch dazu die Hinnahme erst der Zerstückelung, dann der gänzlichen Preisgabe der Tschechoslowakei zählen müssen, und außerdem, gewissermaßen als Garnierung dazu, die unvorstellbare Dummheit des britischen Premierministers Chamberlain mit seinem „Peace for our time“.

Und wenn man schließlich von Kollektivschuld 'spricht, dann wäre dieses Register noch um die Existenz von nationalen NS-Bataülonen in allen von den Deutschen besetzten Staaten zu erweitern. Und wie war es mit Laval in Frankreich, mit Quisling in Norwegen, mit Degrelle in Belgien und Mussert in Holland, Antonescu in Rumänien, Tiso in der Slowakei,

..usw.?....... ..... .......

Dem stehen freilich Dinge gegen-

über, die in ihrer Furchtbarkeit so unfaßbar sind, daß sich die Waage des Verschuldens und der Schuld für alle Zeiten auf die deutsche Seite geneigt hat: ein mutwillig vom Zaun gebrochener Weltkrieg, der Genozid am jü-gischen Volke, die Hinmordung von Hunderttausenden nichtjüdischen Gegnern des NS-Systems und vieles andere, das als unverwischbare Schande in den Geschichtsbüchern über diese Zeit vermerkt bleiben wird.

Es war für die Ankläger des deutschen Volkes nach der Höllenfahrt des NS-Regimes nicht schwierig, ihre Anklageschriften zu verfassen. Studiert man diese Akten, so kann man als Zeitgenosse hinzufügen, daß nur ein Bruchteü all der schaurigen Ereignisse der Judenverfolgung und der Vernichtungslager dokumentarisch festgehalten wurde. Die Wirklichkeit war viel entsetzlicher, als vorhandene Dokumente noch beweisen.

Aber die Frage, die wir uns stellen, ist die, ob dafür das ganze deutsche Volk verantwortlich zu machen war, ob also die Kollektiv-„Schuld“ ein moralisch gültiger Begriff gewesen ist. Es sei gleich vorweggenommen, daß diese Frage kaum mit einem eindeutigen „Ja“ oder „Nein“ beantwortet werden kann,

Blättern wir zurück: Das deutsche Volk - oder wenigstens schon sehr große Teile davon - jubelte am 30. Jänner 1933 einem Manne und seiner Partei zu, die nicht nur durch den legal formalen Akt eines wegen Alters nicht mehr voll handlungsfähigen Staatsoberhauptes zur Macht kamen, sondern weit mehr noch durch den Umstand, daß in den vorangegangenen Jahren auf Straßen und in Betrieben, in Kirchen und Versammlungslokalen der blutige braune Terror herrschte.

Dann kam der bereits erwähnte 30. Juni 1934. Der Jubel im deutschen Volke wuchs. Er wurde stärker und schriller, als die Nürnberger Gesetze die Bürger anderen Glaubens und anderer „Rasse“ entrechteten. Und der Jubel kannte keine Grenzen, als Österreich und die Tschechoslowakei fielen.

Inzwischen gab es die ersten Konzentrationslager. Selbstverständlich hat kein Deutscher auch nur die geringste Ahnung gehabt, daß es so etwas gab! Nicht einmal die Einwohner der bayerischen Gemeinde Dachau bequemten sich nach 1945 zu dem Eingeständnis, daß sie genau gewußt haben, was im ersten deutschen Konzentrationslager vor sich ging.

Schließlich bestand das Lager auch nur zwölf Jahre lang, und man hatte mit einem tausendjährigen Reich gerechnet. Wie war es denn mit der allgemeinen Kenntnis all dessen, was damals geschehen ist? Sicher kannten nur wenige den Umfang der grauenhaften Massenmorde in den Vernichtungslagern, denn ein durch Androhung der Todesstrafe wohlorganisiertes Geheimhaltungssystem funktionierte erstaunlich gut; ganz abgesehen davon, daß es für ein normales Menschengehirn auch nicht vorstellbar war, mit welcher organisatorischen Akribie und technischen Vollkommenheit die Todesfabriken von Auschwitz-Birkenau, Sobibor und Maidanek usw. eingerichtet waren, wo 2000 bis 3000 Menschen innerhalb von drei Stunden in Asche verwandelt werden konnten.

Das alles - im Umfang und im Detail - war sicherlich nur einem kleinen Prozentsatz des deutschen Volkes bekannt. Aber jedermann erlebte täglich Verhaftungen in der Nachbarschaft, im eigenen Freundes- und Verwandtenkreis, jedermann konnte den Abtransport kleiner und großer Gruppen jüdischer Menschen mitansehen, jedermann las die „stolzen“ Berichte über Städte und Ortschaften, die nun , judenfrei“ seien, und jedermann saß, bewußt oder unbewußt, die tödliche Angst in den Knochen, selbst in diese Mordmaschine hineinzugeraten.

Wieviel, oder besser gesagt, wie wenig ist dagegen unternommen worden? Wie schandbar gleichgültig verhielten sich die Massen gegenüber diesen allgemein bekannten Tatsachen, und wie lange jubelten Millionen noch immer den Massenmördern zu, als es längst schon klar geworden war, daß am Ende einer solchen Zeit nur mehr das Chaos zu erwarten war!

So gesehen müssen wir wohl von einer Kollektivschuld sprechen. Es ist jedoch sehr die Frage, ob eine solche Schuld auch für einen Schuldspruch ausreichend ist. Steht es überhaupt im menschlichen Vermögen, ein ganzes Volk zu verurteüen, oder müssen wir uns bei dem Bemühen, Recht und Gerechtigkeit herzustellen und zu sichern, nidht doch auf den Einzelmenschen beschränken, um ihn dort - und eben nur dort - zur Rechenschaft zu ziehen, wo er als Person und durch tatsächliche Handlungen gefehlt hat?

Steht es im menschlichen Vermögen, über eine Schuld zu urteilen, die das Kollektiv auf sich geladen hat, ein

Wenn Kollektivschuld anerkannt wird: Gibt es dann unschuldige Völker?

Kollektiv, dem die Richter selbst angehören, die selbst dann, wenn sie Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime gewesen sind, über sich selbst als Angehörige des Volkes urteilen müßten?

Und noch etwas: Wenn wir schon den Begriff der Kollektivschuld als faßbaren Tatbestand anerkennen wollen, gibt es dann unschuldige Völker? Es ist bereits auf die NS-Ba-taillone anderer Nationen verwiesen worden. Noch ein makabres historisches Faktum drängt sich auf: Als die bedrängten deutschen Juden das Dritte Reich verlassen wollten - solange es noch Zeit war -, da sperrten alle Staaten ihre Grenzen, und nur wenigen gelang es, eine Einreiseerlaubnis zu erhalten.

Auch die Schweizer Eidgenossen verfuhren gleichermaßen, obwohl sie über den Grenzzaun hinüber genau sahen, was denen passierte, denen sie die Einreise verweigerten. Niemand würde deshalb den Schweizern von heute etwas von einer eidgenössischen Kollektivschuld erzählen wollen!

Nun gehört das alles längst der Geschichte an. Eine neue Generation ist angetreten und hat ihr eigenes Schicksal in die Hände genommen. Was bleibt, ist der Wunsch, daß die Völker aus der Geschichte, vor allem aus ihren negativen Kapiteln, lernen mögen. Ob sie das auch tun werden?

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