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„Kolonie“ Österreichs

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Böhmen — und Mähren ist hier immer mitgemeint — verdankte seine herausragende Rolle sowohl der zentralen Lage und der Geschlossenheit des Territoriums wie auch seinem Reichtum an Bodenschätzen und Bodenfrüchten. Das hatte zur Folge, daß die großen, zur Macht über Europa strebenden Dynastien, die Luxemburger und die Habsburger, aber auch die Jagiellonen und Bayern, die Herrschaft über dieses Land anstrebten. Aber auch ein ausgeprägtes Selbstbewußtsein und

Streben nach Eigenständigkeit der Landesbevölkerung — vertreten durch ihre Stände — ist eine Folge davon.

So ist es kein Zufall, daß die erste Manifestation eines echten Nationalismus in Europa gerade in Böhmen aufbricht: Der provozierte Auszug der deutschen Professoren aus der Prager Universität 1409 ist der erste Anlaß für die Hussitenkriege.

Das nächste umwälzende Ereignis, das bis in die jüngste Zeit fortwirkt, war die mit dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges einsetzende Gegenreformation in Böhmen. Die Habsburger waren 1526 mit dem Aussterben der Jagiellonen in den Besitz Böhmens gekommen, und von da an war Böhmen fast 400 Jahre lang mit Österreich verbunden. Ferdinand II. setzte in der Schlacht am Weißen Berg westlich von Prag seine Thronansprüche durch, und die Gegenreformation begann mit Hinrichtungen und weitläufigen Güterkonfiskationen.

Die kunsthistorisch so reiche Zeit des Barock erschien und erscheint auch heute den mit der Aufklärung wieder nationalbewußt gewordenen Tschechen in Böhmen als die Zeit der Finsternis (tschechisch: temno), die Zeit der Herabwürdigung zu einer „Kolonie“ Österreichs. Daß die Gegenreformation vom tschechischen Bevölkerungsteil Böhmens als ein Mittel der Unterdrückung nationaler Eigenständigkeit durch die Habsburger, also eine „ausländische“ Dynastie, und die katholische Religion als das Werkzeug hiezu angesehen wurde, erklärt die Situation der Kir che im heutigen Böhmen.

Im Gefolge der Aufklärung kamen neue demokratische Lebensformen zum Tragen und mit ihnen auch die Umorientierung der Bevölkerung vom Patriotismus zum Nationalismus.

Während die Deutschen Böhmens in Kategorien des Reiches dachten und fühlten, wuchs in den Tschechen wieder der Drang zur Eigenständigkeit. Als eine solche nur den Ungarn gewährt und Böhmens Wünsche nicht erfüllt wurden, wuchs der Wunsch nach radikaleren Lösungen.

Das feierlich verkündete Selbstbestimmungsrecht der Völker nach dem Ersten Weltkrieg galt für alle Völker der Monarchie — mit Ausnahme der Deutschen und Ungarn; sie blieben als die Verlierer des Krieges übrig. Thomas G. Masaryk rief die Tschechoslowakei als neuen Nationalstaat aus.

Die Slowaken, die als Teil Ungarns weder eine historische Eigengestalt noch jemals eine gemeinsame Geschichte mit den Tschechen gehabt haben, waren nun „Juniorpartner“ in diesem neuen Staatengebilde.

1934 nahmen viele österreichische Sozialdemokraten Zuflucht in der Tschechoslowakei. Die „Arbeiterzeitung“ wurde in Brünn weitergedruckt und, auf Lokomotiven versteckt, nach Österreich geschmuggelt. Und 1938 lief auch der Fluchtweg vieler österreichischer Juden über dieses Land, bis auch dort die Truppen Hitlers einmarschierten.

Die jahrhundertelangen engen, zeitweise auch spannungsreichen Beziehungen zwischen Böhmen und Österreich erfuhren mit dem Jahr 1945 eine radikale Änderung, als der deutsche Bevölkerungsteil aus Böhmen gewaltsam vertrieben wurde.

Nach 1948 kam dann der „Grenzraum“ hinzu, der die Beziehungen weiter erschwerte. Zwanzig Jahre später, im Prager Frühling, wurden die vielen niemals ganz abgerissenen Verbindungen wieder lebendig und sind trotz aller Erschwernisse zu einer von Solidarität geprägten Beziehung zwischen den Völkern geworden.

Der Autor stammt aus einer alten böhmischen Adelsfamilie (sie läßt sich mehr als 800 Jahre zurückverfolgen), die im Jahre 1945 aus der Tschechoslowakei vertrieben wurde.

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