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Konglomerat Kerala

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Der Motor tuckerte noch ein letztes Mal verendend, ehe er sich der nächtlichen Stille vollkommen anpaßte. Mit stoischer Ruhe, die auf langjährige Routine schließen ließ, griff die Besatzung des Fährbootes zu etwa vier Meter langen Bambusstäben und stocherte den Kahn in Richtung Ufer, wobei das Dach als günstigster Ausgangspunkt für den Einsatz der „Stoßstangen“ gewählt wurde. Wir waren die einzigen Wei-

ßen unter den rund 50 Insassen des überfüllten Bootes, das von der Doppelstadt Ernakulam-Cochin im Norden des flächenmäßig kleinsten und zugleich am dichtesten besiedelten indischen Bundesstaates Kerala nach 24stündiger Fahrt das keine 150 Kilometer weiter südlich gelegene Quilon erreichen sollte; und wir waren auch die einzigen, die über die Motorpanne fluchten, da uns der Ausfall des bisher, wenn auch bescheidenen, so doch vorhandenen Fahrtwindes Myriaden von Moskitos bescherte, die uns in einträchtiger Zusammenarbeit mit der fast lOOprozentigen Luftfeuchtigkeit der Vormonsunzeit die Hölle in einer der paradiesischsten Landschaften des indischen Subkontinents erleben ließen.

Dieses Kerala bildet sowohl in seiner historischen Entwicklung wie auch in der Gegenwart den Gipfel der Kuriosität innerhalb der an Absonderlichkeiten und Gegensätzen beileibe nicht armen indischen Union. Fast halb so groß wie Österreich (38.855 km1), stellt die Landschaft des einstigen Fürstentums Travancore-Cochin entlang der Arabischen See ein Panoptikum der Natur dar, wie es die Südsee nicht malerischer bieten kann: riesige Palmenhaine rings um die „Backwater“, deren kanalartiges Salzwassersystem an manchen Stellen weit mehr als 20 Kilometer durch das Küstengebiet ins Landesinnere vorstößt, üppige Reisfelder von unwahrscheinlich zartem Grün werden von dik-ken Büschen arabischer Kamelien abgelöst, die tropische Farbenpracht der Flora läßt kaum eine Schattierung außer acht; an den Bananenstauden hängen überdimensionale Früchte, die mit den phallischen Symbolen mancher Hindu-Tempel konkurrieren, könnten — will man den Gedanken nicht als absurd zurückweisen in einem Land, wo die Oben-ohne-Mode in einigen Dörfern jahrhundertealte Tradition bildete und just in dem Jahrzehnt zu verschwinden begann, da in den überzivilisierten Staaten geschickte Geschäftemacher diesen new look als neu verkauften. Mit dem Anamalai Peak besitzt Kerala jedoch auch die höchste Erhebung (2689 m) dieses Subkontinents südlich des Himalaja.

450 Menschen drängen sich hier auf einem Quadratkilometer, was mehr als das Dreifache des gesamtindischen Durchschnitts bedeutet. Bei der diesjährigen Volkszählung werden mindestens 22 Millionen auf diesem faszinierenden Fleckchen Erde zu registrieren sein, die sich untereinander in Malayalam verständigen, und man ist überrascht, gerade in jener typisch drawidischen Region auf eine Sprache zu stoßen, deren Sanskrit-Gehalt den vieler indo-arischer Zungen weit übertrifft. Rund ein Viertel der Bevölkerung bekennt sich zum Christentum, und etwa 60 Prozent der Kerala-Leute sind des Lesens und Schreibens kundig — beides Zahlen, die man nirgendwo sonst in Indien antreffen wird. Innerhalb weniger Minuten ist es hier möglich, Verehrern der Muttergottes in einer Prozession zu den zahlreichen Marien-Standbildern und weißen Kirchen zu begegnen, und dann einen Zug von Teufelsanbetern aus einer der niedrigsten Kasten zu bestaunen, die zu einer seltsamen Symphonie von Schellen, Trommeln und Pfeifen in absonderlich anmutenden Verrenkungen, gepaart mit akrobatischen Einlagen, des Weges tanzen.

Ebenso frappierend mutet wohl die Tatsache an, daß dieses schillernde Kerala gleichzeitig eine Hochburg des Christentums wie des Kasten(un)wesens, ein Tummelplatz von Menschen mit Minimalbildung und von urigen Bergstämmen — in den hügeligen Regionen warten unter anderen die Uralis, Ullatans, Mudrans und Pandarams „ein jungfräuliches Feld für anthropologische und soziologische Studien auf“, wie es eine indische Reisepublikation anpreist — und last, not least das früh-heste und auch beständigste Bollwerk des indischen Kommunismus ist. Rote Fahnen, mit Hammer und Ähre versehen, sind um grüne Palmen drapiert, doch zu den wirkungsvollsten unter der Überfülle kommunistischer Symbole zählt wohl das große Lenin-Bild auf einer Wassertonne, den Stammvater der modernen Sowjetunion gleichsetzend in der Lebensnotwendigkeit dem Urquell alles Lebens — eine Assoziation, die auch dem primitivsten Wähler begreiflich wird.

So dominierte die kommunistische Partei (auch nach der Spaltung in einen Moskau- und einen Pekingorientierten Flügel) das Landes-parlamenit Keralas, und kommunistische wie christliche Minister saßen in der Landesregierung. Die indische Konglomeratsmentalität ermöglicht spielend das dem westlichen Pragmatiker verspielt vorkommende Ineinandergreifen und Vermischen von Bestandteilen an sich wesensfremder Ideologien, und auch der gebildete Inder erscheint oft als wahlloser Eklektiker, dem eine Vermengung verschiedenster Ideen und Systeme keinerlei Kopfzerbrechen verursacht. Diese Ausprägung tritt nirgends sonst in Indien so typisch zutage wie im „roten Kerala“, wo beispielsweise der langjährige Kommunistenchef und namhafteste Promoter linken Gedankenguts, E. M. S. Nam-boodripad, der südindischen Brah-manenkaste der Namboodris entstammt, Während sich ein großer Teil der kommunistischen Stammwähler aus der nur knapp über den Parias rangierenden Palmwein-zapferkaste, den Ezhavas, rekrutiert; als allerdings ein Politiker aus dieser Nachzüglergruppe an die Spitze der regionalen Kongreßpartei avancieren konnte, verloren die Kommunisten breite Schichten ihres einstigen Sttmmenpotentials an diese. Europäer mögen eine solche Fluktuation ebenso verwunderlich finden f| wie die Tatsache, daß Namboodripad, Verfasser einiger progressiver Werke, sich in einem Buch über jene gar nicht seltenen indischen Politiker lustig machte, deren Ratgeber überwiegend in Astrologie-Experten bestehen, seinerseits jedoch 1957 und 1967 für die Amtseinführung der Landesregierungen just den Tag wählte, der nach „astrologischen Erkenntnissen“ als „frei von üblen Einflüssen“ prognostiziert worden war.

Die Fahrt durch die „Backwater“, bei der schließlich drei Motorpannen über den Fahrplan triumphierten, läßt bereits erahnen, daß Industrie in dieser Gegend ein Fremdwort geblieben ist, daß der Anteil des stellungslosen „intellektuellen Proletariats“ in Kerala noch über dem gesamtindischen Durchschnitt liegt und die Auswanderungsquote (vor allem nach Bombay, wo schon fast eine Million Keralaner leben) hier am höchsten ist. Die weißen Touristen auf dem primitiven Kahn jedoch werden von trivialen Problemen, wie Hitze, Luftfeuchtigkeit und Moskitos, unmittelbarer berührt und vergessen die Nöte des Landes über den faszinierend fremdartigen Bildern von chinesischen Fischerbooten, zerschlissenen Segeln, die dem Wind mehr Durchlaß- als Angriffsfläche bieten, und zahlreichen dunkelhäutigen Lehmtauchern, die große Schlammklumpen zuerst auf ihren Kopf und dann in ihr Boot hieven, ohne daß ihren grinsenden Gesichtern die Spur einer Anstrengung anzusehen ist.

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