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Konstitutionelle Diktatur

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In der Sowjetunion und im Einflußbereich Moskaus lernen die Schüler, daß Alexander Radischtschew, ein Protegė der großen Katharina, nach einem mehljährigen Studienaufenthalt im Westen 1790 den Versuch gewagt habe, mit seiner „Reise von St. Petersburg nach Moskau” die Ideen seiner Zeit, Aufklärung und Libertät, im Reich der autokratischen Herrscherin zu verbreiten. Seinem Reisenden kam dabei zu Hilfe, unterwegs, sozusagen zufällig, ein Verfassungsprojekt aufzulesen und dem geneigten Leser mitzuteilen. Dieser Versuch bekam Rußlands erstem „Radikalen” nicht: Das Buch wurde sogleich eingezogen, der Autor zum Tod verurteilt, später aber nach Sibirien verbannt. Die Leidensgeschichte der Intelligentsia hatte begonnen. Einige Jahre später „rehabilitiert”, aber bald vom Reformzaren Alexander I. enttäuscht, neuerlich bedroht, machte Radischtschew 1802 seinem Leben selbst ein Ende. Rußland bekam seine erste Verfassung im Oktober 1905. Der letzte Zar gewährte, was von Max Weber flugs die Etikette „Scheinkonstitutio- nalismus” erhielt. Nach dem Zusammenbruch der Autokratie wollte sich die junge Republik eine Verfassung geben, doch die Konstituierende Versammlung wurde von der kleinen, waghalsigen und erfolgreichen Putschpartei, den Bolschewiki, aufgelöst. 1965, im Jahr nach Chruschtschows Sturz, mußte ein junger Russe, Andrej Amalrik, seine „Unfreiwillige Reise nach Sibirien” in eine zweijährige Verbannung antreten. In seinem nicht-fiktiven Reisebericht schilderte er sodann die wirklichen Verhältnisse in Sibirien, dreißig Jahre nach dem Inkrafttreten der Stalinschen Verfassung von 1936. Unter den Kolchosbauern in Jurjewka ist die konstituzija, die Verfassung, nicht einmal ein Fremdwort; die meisten wissen nämlich nicht einmal, was- die Buchstaben KPdSU bedeuten.

Ist das Medienthema der letzten Wochen - Breschnjews Geburtstagspräsent zum 60. Oktoberjubiläum, seine Verfassung - ohne historischen Hintergrund und ohne Blick auf die heutige Verfassungswirklichkeit, in der Sowjetunion und in den Satellitenstaaten überhaupt zu verstehen? Das Projekt einer dritten Verfassung, nach dem „Grundgesetz” der RSFSR von 1918, der ersten Verfassung von 1924 urid der Stalinschen Demokratiefas sade, brachte Chruschtschow vor fast 16 Jahren, auf dem zweiten Entstalini- sierungsparteitag im Oktober 1961, aufs Tapet. Das neue Grundgesetz sollte die Abkehi.vr.n i’.em „Personenkult” genannter Despotismus markieren und Chruschtsc*dws ReiOrmgeist verewigen. Eine Kommission wurde gebildet; von ihrer Arbeit war nur selten, zuletzt immer weniger die Rede. Es blieb den Dissidenten Vorbehalten, durch ihre Aktivitäten, nicht zuletzt durch ihre stummen Demonstrationen in den Metropolen am Tag der Menschenrechte an die vorenthaltenen Freiheiten zu erinnern. Die offizielle Mitteilung über ein Plenum des Zentralkomitees der KPdSU am 24. Mai 1977 überraschte die Welt sowohl mit einem Bericht Breschnjews als Vorsitzenden der in ihrer Zusammensetzung eben erst veränderten Verfassungskommission über den Entwurf wie auch, offensichtlich damit in engstem Zusammenhang, mit der Bekanntgabe des Ausscheidens des Staatsoberhaupts Nikoląj Podgorny aus dem obersten Führungsremium der Partei, dem Politbüro. Weder das plötzliche Reifen der neuen Verfassung noch der Abgang des Ukrainers wurde auch nur mit einem Wort begründet. Am 27. Mai 1977 trat das Präsidium des Obersten Sowjet der UdSSR ohne Podgomy - seinem Vor sitzenden - zusammen, um nach Erläuterungen Breschnjews das Projekt zur Veröffentlichung und Beratung durch das Volk weiterzuleiten. Der Text des Verfassungsentwurfs ist am 4. Juni 1977 veröffentlicht worden. Tags darauf wurde Breschnjews Rede vom 24. Mai publiziert; seither scharen sich auf Photos glückliche Werktätige um die Zeitungen mit dem neuen Grundgesetz.

Was dem Endsechziger Chruschtschow mißlang - sein Reformwerk mit dem dritten Programm der KPdSU (von 1961) und einer neuen Konstitution festzuschreiben und damit als Luther und Moses den Übergang zur Vollendung des Sozialismus, zum eigentlichen Kommunismus, einzuleiten, das soll den mühsamen Aufstieg seines Erben zum verfassungskonformen Herrschertum am Beginn seines achten Lebensjahrzehnts krönen. Weniger mit Marx und Engels als vielmehr mit Thomas Hobbes scheint sich Breschnjew davon überzeugt zu haben, daß nur - sein - Absolutismus den inneren Frieden, sprich: den Bestand des Regimes, sichert. Das neue Grundgesetz hat nicht die Funktion, die Macht des Generalsekretärs zu beschränken; es stabilisiert und verschleiert sie. Offener als in der Stalin- Verfassung wird die Führungsposition der KPdSU im Staatsgrundgesetz verankert. Daß es an deren Spitze immer nicht viel anders zugeht als zu Machiavellis Zeiten an einem italienischen Hof, hat nach Chruschtschows, Scheiepins, Schelests und anderer Abgang Podgomys Verschwinden eben wieder demonstriert. Neuen Überraschungen wird auch Breschnjews Staatscharta ‘77 nicht hinderlich sein. Es kam nicht unerwartet, daß sich das Selbstlob der KPdSU aus Chruschtschows Parteiprogramm von 1961 im Artikel 6 des Entwurfs wiederfindet; es ist aber doch wohl nicht ohne Ironie und tiefere Bedeutung, daß Chruschtschows (nach seinem Sturz umstrittenes) Harmonie-Abrakadabra- vom Ende der Diktatur des Proletariats, von der Partei und vom Staat des ganzen Volkes - zum Teil wörtlich und erst recht mit dem Sowjetvolk als der „neuen historischen Menschengemeinschaft” fortgesetzt wird, die in der „entwickelten Gesellschaft des Sozialismus” gesetzmäßig den Übergang zum Kommunismus erarbeitet, wobei die Partei gleich dreimal als „Volkskraft” apostrophiert wird. In marxistisch-leninistischer Terminologie wird eine altersgraue Verschleierung rechtskonservativer Positionen betrieben, die schon Marx und Engels zu Hohn und Spott gereizt hat.

Ihren eigentlichen Stellenwert erhält die neue Verfassung in der außenpolitischen Dimension. Denn sie gibt dem Sowjetbürger nichts zu dem hinzu, was er auch ohne sie nicht hat. Sie ist im Moment zwar hilfreich als Medienthema vor und während der Belgrader Nachfolgekonferenz von Helsinki, die auch dann und schon deshalb ein Tribunal ist, weil die appeaser und neuen Großmünchner im Westen immerfort ausschreien, daß sie keines sein soll. Breschnjews konstituzija wird gewiß schön in den Oktober 1977 passen. Wichtig ist sie aber deshalb, weil sie die Doktrin in sich schließt, die seit 1968 mit dem Namen des Generalsekretärs verbunden ist: das (nicht neue) Dogma vom Vorrang sozialistischer gegenüber nationalen Interessen. In einem immer dichter geknüpften Netz bilateraler Verträge haben sich die kommunistischen Machthaber Interventionen zur Erhaltung ihrer Herrschaft zur Pflicht gemacht, zur heiligen Pflicht des sozialistischen Internationalismus. Als ideologisches Fundament steht die „neue historische Menschengemeinschaft” auch hier zur Verfügung; ominöse Formeln in Artikel 30 des Projekts über „brüderliche Hilfe” im Rahmen des „Weltsystems der sozialistischen Gemeinschaft” weisen über den bestehenden Hege- monialverband Moskaus hinaus. Zwar wünschen die Völker zwischen Ostsee und Schwarzem Meer die vergleichsweise vorteilhaften Elemente einer Finnlandisierung herbei. Nach Kremlwunsch ist ihnen eine Art von Baltisierung sicher; finnlandisiert, im Sinne einer vertraglich fixierten Angeschlossenheit und beflissenen Mimikry, soll Westeuropa werden. Erst dann wäre der Altherrenriege im Kreml wohler. In diesem Verbundsystem der Angst, diesem Kartell der Macht, veranschaulicht sich die Realität des Moskauer Spätsozialismus und seine panslawistisch-nationalistische Grundstruktur konkreter als in der dürren Phraseologie des Entwurfs oder in der erpresserischen Entspannungsheuchelei.

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