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Konversion der Liebe

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Es ist erstaunlich und selbst für einen Kenner überraschend, welch weltweites Echo Gertrud von Le Fort gefunden hat und noch heute findet. Nicht allein, daß jetzt zu ihrem 100. Geburtstag zahlreiche Feiern, Akademien, Ausstellungen veranstaltet werden und in fast allen großen Zeitungen Essays erscheinen, beweist das, vielmehr noch der Gedenkband, den der Ehrenwirth-Ver-lag eben in München herausgebracht hat, unter dem Titel „Dichtung ist eine Form der Liebe, Begegnung mit Gertrud von Le Fort und ihrem Werk zum 100. Geburtstag am 11. Oktober 1976“. Carl Zuckmayer leitet den Band mit seiner Rede ein, die er als Liebeserklärung an die Dichterin bezeichnet und zu ihrem 90. Geburtstag im deutschen Fernsehen gehalten hatte. Eine Reihe von Germanisten und Theologen schließt sich an.

Das Werksverzeichnis ist besonders aufschlußreich. Hier erfährt man, in welche Sprachen ihre Dichtungen übersetzt wurden: selbstverständlich französisch, englisch, italienisch, spanisch, aber auch ungarisch, portugiesisch, dänisch, schwedisch, holländisch, polnisch, tschechisch. Dazu Arbeiten in all diesen Sprachen über ihr Werk. Am beeindruckendsten sind die Übersetzungen ins Japanische und an die 20 Arbeiten über sie in dieser fernöstlichen Sprache, dazu ein Essay des japanischen Germanisten Fujita über die Bedeutung der Dichterin in Japan. Immer wieder erscheinen Dissertationen, werden Hörspiele gesendet, finden Lesungen im Rundfunk statt. Ihre Werke werden verfilmt, kommen als Drama oder Oper auf die Bühne, sind vertont worden, werden in Form von Schulausgaben in den Schulen Deutschlands, Italiens, Englands, Amerikas und Japans gelesen, haben Eingang in Taschenbuchserien gefunden. Angesichts dieses Materials kann man ruhig sagen, daß es keinen Kontinent gibt, in dem sie nicht gelesen wird. ' Darin zeigt sich etwas, das Gertrud von Le Fort selbst praktiziert hat: daß auch unsere geschichtliche Vergangenheit zur Ökumene gehört. Man sagt so leicht: vergangen, überholt, nicht mehr zeitgemäß, ja auch: traditionsgebunden, konservativ, reaktionär. Kein anderer als Hans Magnus Enzensberger zeigt einmal, daß es zum eigentlichen Fortschritt gehört, die Herausforderung der Geschichte anzunehmen, sie also weder um einer zweifelhaften Modernität willen zu verdammen, noch um eines ebenso zweifelhaften Traditionalismus willen sie zu konservieren. Zur Ökumene, die wir heute gerade im christlichen Raum pflegen, das heißt also, daß wir Brücken zu schlagen versuchen zu anderen Weltanschauungen und Religionen, zu den getrennten Brüdern und zu denen von den Straßen und Zäunen, zu dieser Ökumene gehört auch, was wir so leicht vergessen, daß wir auch unserer eigenen Geschichte gegenüber aufgeschlossen bleiben. Die Geschichtlichkeit der Wahrheit, von der wir heute soviel sprechen, zeigt die Bedingnisse der geschichtlichen Situationen auf: daß wir als geschichtliehe Wesen nur aus bestimmten Perspektiven denken können, daß es keineswegs böser Wille ist, sondern Zeitgebundenheit, wenn wir manches verstehen und anderes nicht verstehen, daß andere wieder anderes verstehen und nicht verstehen. Billige Klischees wie „überholt“ oder „reaktionär“ zeugen nur von Engstirnigkeit oder Dummheit, und das sogenannte „Moderne“ ist wohl ein Begriff, der durch alle Diskussionen schlittert, unter dem man sich aber oft nichts Genaues vorstellen kann. Enzensberger, Gottfried Benn wissen manches Lied davon zu singen.

Gertrud von Le Fort ist nicht nur selbst Geschichte geworden, sie liebte das historische Thema: „Der historische Roman“, sagt sie, „kann eine diskrete Form des zeitnahen Romans darstellen; ja man darf hier sogar sagen, daß zuweilen die menschlichen Probleme unserer eigenen Zeit klarer gesehen werden, wenn man gleichsam einen Schritt zurücktritt.“ Sie nimmt die Herausforderung der Geschichte an, versucht, wie sie es vor ihrer Konversion sagte, zu allem, auch zur geschichtlichen Vergangenheit Brücken zu schlagen, um die Gegenwart und auch die Zukunft zu meistern; sie sucht zu dem vorzudringen, was Karl Jaspers, den sie in ihrer Heidelberger Studienzeit als jungen Dozenten gehört hatte, die Tiefe des Jetzt nennt: „Die Tiefe des Jetzt — in eins mit Vergangenheit und Zukunft, der archimedische Punkt aller Geschichte, an dem das Chaos zufälliger Ereignisse zur Einheit und Sinngestalt wird.“

Die Tiefe der Erlebnis- und Ent-scheidungsfähigkeit der Person schafft Einheit und Sinngestalt — darüber hinaus für Gertrud von Le Fort: der Glaube, der für sie konkrete geschichtliche Gestalt im Bekenntnis zur Kirche gefunden hat. Hier wurzelt ihre große umfassend ökumenische Gebärde, mit der sie Andersgläubige und Ungläubige, Heilige und Sünder, ja sogar die Hölle umfängt. Was im Dokument des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Kirche steht, hat sie längst in ihren „Hymnen an die Kirche“ vorweggenommen, was heute als moderne Religiosität verkündet wird, schon längst in ihrem „Kranz der Engel“. Nur wurde sie damals von jenen hektisch Modernen angegriffen, „die es gar nicht merken, wenn sie heute verkünden, was sie gestern angegriffen haben oder umgekehrt“ (Max Frisch).

In die Tiefe des Jetzt dringt nur das „Plus ultra“ der Liebe vor, jener immer neu sich entscheidenden und den Menschen umfangenden Liebe, die den zwanghaften Kreislauf der Geschichte, des Steigens und Fallens, des Veralterns und Modernisierens, das bald auch wieder veraltet sein wird, dieses Affentheaters und Irrenhauses der bloß geschichtlichen Vorgänge, die Liebe, die diesen zwanghaften, oft so lieblos urteilenden Kreislauf der Geschichte durchbricht, zu jenem Mittelpunkt hin, von wo aus wir den Kreislauf überblicken, in Freiheit jeden geschichtlichen Augenblick wohl begleitend, sich ihm aber nicht ausliefernd.

In unveröffentlichten Aufzeichnungen aus dem Nachlaß schreibt sie zu ihrer Konversion: „Sie bedeutete keine Absage an die Frömmigkeit meiner Vorfahren, auch keine Absage an das erschütternde Ringen meiner Heidelberger Lehrer, sondern eine Heimkehr getrennter Pfade zu dem gemeinsamen Ursprung — es war eine Konversion der Liebe und nicht die einer Abschwörung. Mein Ubertritt hatte nichts mit einer Wandlung zu tun, sondern war ein Stück Liebe, das ich gefunden hatte, und meine Liebe nimmt schon jetzt die Spaltung hinweg, die einmal aufgehoben wird und aufgehoben werden muß.“

„DICHTUNG IST EINE FORM DER LIEBE“. Begegnung mit Gertrud von Le Fort und ihrem Werk zum 100. Geburtstag, hg. von Hedwig Bach, Ehrenwirth-Verlag, München 1976, 160 S.

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