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Konzilsvater Voltaire

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Zwei Phänomene, der Terror und die Spannung zwischen Rechts und Links, wirken sich auf interessante Weise unter den Katholiken Lateinamerikas aus; einem Halbkontinent, auf dem fast die Hälfte aller Katholiken lebt.

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Zwei Phänomene, der Terror und die Spannung zwischen Rechts und Links, wirken sich auf interessante Weise unter den Katholiken Lateinamerikas aus; einem Halbkontinent, auf dem fast die Hälfte aller Katholiken lebt.

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Der brasilianische Bischof Dom Heider Camara ließ bei seinem kürzlichen Aufenthalt in Chile /erlauten, die Freiheit des Menschen sei vom rechten und vom linken Totalitaris-rmus bedroht, die Kirche halbe das — anerkannte oder nicht anerkannte

— Recht, Ungerechtigkeiten anzuprangern. In der Tat geht das weltliche Bemühen der katholischen Kirche in Lateinamerika darum, gegen Verletzunigen der Menschenrechte und für bessere soziale Verhältnisse einzutreten. In letzter Zeit

hat sich das chilenische Episkopat für die dort noch festgehaltenen politischen Gefangenen eingesetzt. Nach der Schließung des „Komitees für den Frieden“ ist an dessen Stelle ein „Vikariat der Solidarität“ gegründet worden, das die Familienangehörigen der politischen Gefangenen und Verschwundenen juristisch berät. Die 89 Habeas-Corpus-Anträge, die das Vikariat in den ersten drei Monaten dieses Jahres stallte, wurden allerdings mit der Begründung abgelehnt, daß sie während des militärischen Ausnahmezustandes prozessual unzulässig seien. Aber nach der Konferenz der „Organisation Ameritaanischer Staaten“ in Santiago wurden infolge gemeinschaftlichen Drucks der USA und der Kirche 305 der etwa 800 politischen Gefangenen freigelassen.

In Bolivien hat sich der „ständige Ausschuß der Bischofskonferenz“ bei den kürzlichen Unruhen in der Minenzone an' den bolivianischen Diktator General Hugo Banzer gewandt und 'gegen die Verhaftung von Gewerkschaftsführern, willkürliche Entlassungen und Torturen protestiert.

In Paraguay hat sich ein neuerlicher Konflikt zwischen Staat und Kirche wegen der Verhaftung dreier Priester (Ignäcio Parra, Francisco Romero und Patrick) Fiigueredo) mit deren Freilassung gelöst.

In Kolumbien beklagte die Anfang Juli tagende iskopal-Konf ertnt' eine „immer alarmierendere private und öffentliche Amoralität und di« maßlose Gewinn- und Verschwendungssucht der herrschenden Schicht“.

In Argentinien führte der derzeitige Terror dazu, daß Kirche und Regierung in dasselbe Horn blasen müssen. In der „San Patricio“-Kirche der BaHLottiner in Buenos Aires wurden drei Geistliche und zwei Seminaristen von Rechtsextremisten erschossen. Diese ließen Inschriften zurück von denen eine — auf einen roten Teppich gemalt — den Anschlag begründete: er geilte jenen, von denen „die Seelen unserer jungen Menschen vergiftet werden“. 200 Priester und 3000 Gläubige nahmen an der Beisetzung der Opfer des Generals Videla teil; Trotzdem die Militärregierung eindeutig die verbrecherischen Elemente der Links- und Rechtsextremisten gleichsetzt, ist es auch ihr nddht gelungen, auch nur ein einziges Mitglied der ,AAA“ zu identifizieren, was auf Helfershelfer in Polizei und Heer schließen läßt.

Der scharfe Gegensatz zwischen den ultrakonservativen und progres-sistiseben katholischen Kreisen offenbarte sich in einem merkwürdigen Zwischenfall beim kürzlichen Gastspiel der vom Quai d'Orsay finanzierten Theatergruppe Denis Llorca-Jean Fnancois Prevaud im „Teatro Nacional Cervantes“ von Buenos Aires. Die Truppe spielte „Voltaires Folies“. In diesem Stück fällt der Satz: „Idi wage die Behauptung, daß vom Konzil von Nicäa bis zum Aufstand in den Cevennan kein Jahr vergangen ist, in dem dras Christentum nicht Blut vergossen hätte. Zwei Millionen unschuldiger Bewoh-

ner der neuen Hemisphäre wurden wie wilde Tiere ermordet unter dem Verwand, daß sia nicht Christen werden woMiten.“ Nach diesen Warten schrie man aus dem Publikum: „Salaitds! Cochems! A Moscou! Communis tes!“ Beim Verlassen des Theaters wurde Prevaud bedroht. Man sagte die Wiederholungen des Stük-kes ab. Der Leiter der Truppe ließ dazu venlauten: „Ich bin überzeugter Katholik und habe in Frankreich oft über das Stück mit Priestern diskutiert Affle stimmten mit mir darin überein; daß die wahre Botschaft Voltaires die der Toleranz und der Brüderlichkeit ist. Es handelt sich also um eine wirklich post-konziliare Stellungnahme, die nicht mit dem Kaitholiziismius in Widerspruch steht.“ Das katholische Volk dürfte eben anderer Ansicht gewesen sein.

Eine andere für die Neuorientierung der Kirche interessante Auseinandersetzung spielte sich in Brasilien ab. Der Erzbischof von Salvador, Kamdiimal Avelar Bnancäo Vilela las bei der Feier des 30. Jahrestages der Gründung der Freimaurerloge „Liberdade“ eine Messe und nahm kurz darauf in der Loge den Titel eines „großen Wohltäters“ und den Verdi enistonden „Dom Pedro Pri-meiro“ — die höchste Auszeichnung der dortigen Freimaurerei — entgegen« In der Zeitung „O Globo“ richtete daraufhin ein führender Katholik, Gustavo Concao, einen scharfen Angriff gegen,den Kardinal. Dieser antwortete, daß er bei seinen Kontakten mit den Freimaurern festgestellt habe, daß sie sieh keineswegs mehr im Gagensatz zur Kirche fühlten. Die Mehrzahl der 300.000 brasilianischen Freimaurer soll sich übrigens, wie einst Kaiser Pedro I., gleichzeitig zur Loge und zum Katholizismus bekennen.

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