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Kopf und Herz in Europa

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Für die Weltstadt Wien mag dies eines der vielen internationa- len Symposien gewesen sein.

Für mich, den von Wien für immer Verzauberten, bleibt es einmalig und unvergeßlich - mit der lang ersehnten Gelegenheit, die eigene Meinung endlich frei äußern zu können.

Das Thema des Symposions - „Literatur und politische Erneue- rung. Von der Volksdemokratie zur Demokratie" (vom 28. bis 30. Mai)- hat die anwesenden Schriftsteller, Wissenschaftler, Verleger, Überset- zer aus allen Ländern des zerfal- lenden Ostblocks sowie aus Öster- reich dazu verpflichtet, ihren Wor- ten einen politischen Beiklang zu geben.

Der präzise Tonfall und die abgewogene Wortwahl berufsmä- ßiger Politiker war in diesen Äuße- rungen oft zu vermissen, dafür waren alle Statements von Ehrlich- keit gekennzeichnet. Das bunte Bild der Stellungnahmen deutete die breite Palette an, die die Intellek- tuellen des sogenannten Ostens bewegt, und beweist andererseits auch, daß sie in ihrem Drang nach Demokratie nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Herzen dabei sind.

Jahrzehntelang starrten Kultur und Politik in Osteuropa einander feindselig an, die Beteiligung am politischen Leben war absurd, weil dieses Leben praktisch nicht exi- stierte. In den letzten und beson- ders qualvollen Jahren der kom- munistischen Alleinherrschaft war es ausgerechnet die Kultur, in der der denkende Mensch seine Zu- flucht suchte. Ihr gelang es, eine neue, symbolhafte, tief metaphori- sche Sprache herauszuarbeiten, die in der langen Zeit strengster Zen- sorenaufsicht ihre geheime politi- sche Botschaft war.

Der nun endlich anlaufende Demokratisierungsprozeß zerstört viele der Mythen von gestern. Heu- te sehen wir die gegenseitige Ver- knüpfung von Kultur und Politik, die sich in einem Satz zusammen- fassen läßt: Die wahre Kunst blüht nur auf freiem Boden.

Die neue Zeit hat für uns nicht nur neue Probleme mit sich ge- bracht, sondern auch neue Begriffe ins Zentrum der Diskussion ge- rückt. So ist der Begriff der De- mokratie zu einem Hoffnungsbe- griff geworden ist, nachdem er in der östlichen Welt in den letzten Jahrzehnten seinen ureigenen Sinn vollkommen eingebüßt hatte und zur zynisch-grotesken Metamor- phose der „Volksdemokratie" ausartete.

Die Tage dieses Wiener Sympo- sions waren aber auch von einem anderen Begriff der neuen Zeit gekennzeichnet - dem des Pluralis- mus. Es wurde klar, daß es in jedem Sinne falsch ist, sich auf eine einzi- ge Theorie der gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen oder kulturellen Organisation zu verlas- sen.

Das Symposion bildete einen Raum für unterschiedliche, aber gleichberechtigte Interpretationen der Welt, in der wir leben, und die- ser Raum ließ unterschiedliche, aber gleichberechtigte Interpretationen zu, in denen weder Hoffnung und Zuversicht noch Pessimismus und Skepsis fehlten.

Ein dritter Begriff - der Begriff des Marktes - beherrschte eben- falls die Reden der Teilnehmer. Die Schwerpunkte verschoben sich immer wieder, doch die Befürch- tungen, daß die Kommerzialisie- rung die Kultur der ehemaligen so- zialistischen Länder ernsthaft be- droht, tauchten immer wieder auf.

Mit der marktwirtschaftlichen Orientierung dieser Länder wer- den die Subventionen für die Kul- tur radikal gekürzt, künftig muß auch die Anfrage des Marktes ak- zeptiert werden. Aber wir müssen erst die Kunst beherrschen lernen, das Interesse des Marktes und die hohen Werte der Kultur in Ein- klang zu bringen.

Der Johnny-Walker-Werbeslo- gan wurde treffend umgeändert: „Der Zensor geht. Der Buchhal- ter kommt." Zugegeben, anstelle der früher ideologischen Zensur droht nun eine andere - die des (mangelnden) Geldes.

Nach den gravierenden Verände- rungen des letzten Jahres stehen wir alle vor neuen Problemen. Man könnte sogar sagen, daß die Gewiß- heit, die schreckliche Last des kommunistischen Totalitarismus ertragen zu müssen, in gewissem Sinne doch leichter war als die Ungewißheit, die auf uns zukommt. Aber der Weg in die Zukunft setzt zunächst die Abrechnung mit der Vergangenheit voraus. Es heißt nun, der desintegrierenden Kraft der Vorurteile entgegenzuwirken - Europa muß zusammenhalten, sei- ne kulturelle Integration kann und muß der politischen vorausei- len.

Zum Glück gibt es die herme- tisch geschlossenen Grenzen von früher nicht mehr. Heute, wo die meisten Bürger des früheren Ost- blocks ihre ersehnten Reisepäße schon haben, wird die Kultur zu einem immer wichtigeren Identi- täts-Ausweis für deren Rückkehr nach Europa.

Die Aufnahme in die europäische Kulturgemeinschaft darf nicht nur durch Hilfe von außen, sondern muß auch durch die eigenen Werte er- rungen werden, es ist nicht nur ein Nehmen, sondern auch ein Geben. Der Weg zur gesamteuropäischen Annäherung darf keine Einbahn- straße sein.

Pavel Kohout, der in Wien leben- de namhafte tschechische Schrift- steller, hat beim Symposion Beden- ken geäußert, ob die Intelligenz angesichts der großen politischen Probleme nicht wieder versagen wird. Ich glaube, die drei Tage im Wiener Palais Palf f y haben an Stel - le von Skepsis doch Hoffnung auf- keimen lassen.

Einen anderen Weg als den zur Einheit hat die Intelligenz Europas einfach nicht.

Der Autor ist Chefredakteur der bulgarischen Zeitschrift für Weltliteratur „Panorama".

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