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Kopflastiger Bundesstaat

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Die wesentlichen Strukturprinzipien der österreichischen Bundesverfassung sind Föderalismus und Demokratismus. Jener äußert sich in der Form einer bundesstaatlichen Organisation, dieser äußert sich vor/11cm in der Form eines parlamentarischen Regierungssystems auf der Basis eines Verhältniswahlsystems. Die hundesstaatliche Organisation äußert sich in der Gliederung der Republik in Bund und neun gleichberechtigte\ Länder, in der Aufteilung der staatlichen Funktionen der Gesetzgebung und Vollziehung auf Bund und Länder, in der Mitwirkung der Länder an der Gesetzgebung und an der Vollziehung des Bundes durch den Bundesrat und in der Ausübung der Vollziehung des Bundes im Bereich der Länder durch den Landeshauptmann und die ihm unterstellten Landesbehörden (mittelbare Bundesverwaltung), soweit nicht eigene Bundesbehörden bestehen.

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Die wesentlichen Strukturprinzipien der österreichischen Bundesverfassung sind Föderalismus und Demokratismus. Jener äußert sich in der Form einer bundesstaatlichen Organisation, dieser äußert sich vor/11cm in der Form eines parlamentarischen Regierungssystems auf der Basis eines Verhältniswahlsystems. Die hundesstaatliche Organisation äußert sich in der Gliederung der Republik in Bund und neun gleichberechtigte\ Länder, in der Aufteilung der staatlichen Funktionen der Gesetzgebung und Vollziehung auf Bund und Länder, in der Mitwirkung der Länder an der Gesetzgebung und an der Vollziehung des Bundes durch den Bundesrat und in der Ausübung der Vollziehung des Bundes im Bereich der Länder durch den Landeshauptmann und die ihm unterstellten Landesbehörden (mittelbare Bundesverwaltung), soweit nicht eigene Bundesbehörden bestehen.

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Die Verwaltungsführung in mittelbarer Bundesverwaltung ist nach unserer Verfassung die Regel und das vielleicht länderfreundlichste Element unseres Bundesstaates. Allerdings wurden durch die Entwicklung des Verfassungsrechtes wesentliche Teile auch im Bereich der Verwaltung zentralisiert, so etwa die allgemeine Sicherheitspolizei.

Eine weitere Länderfreundlichkeit der Verfassung besteht darin, daß zwischen Bund und Ländern nicht das Verhältnis einer Über- und Unterordnung, sondern ein Verhältnis der Gleichheit und Gleichordnung unter der Gesamtverfassung eingerichtet ist. Dieses Prinzip der Koordination schließt den Satz „Bundes-

recht bricht Landesrecht“ aus. Die Verfassung trägt der förmlichen Gleichwertigkeit von Bund und Ländern unter anderem auch dadurch Rechnung, daß die Ausdrücke „Staat“ und „staatlich“ sowohl den Bund als auch die Länder meinen. Das Prinzip der Koordination bedeutet aber nicht eine inhaltliche Gleichgewichtigkeit von Bund und Ländern in bezug auf die ihnen von der Verfassung zugewiesenen Kompetenzen. Die Kompetenzverteilung gewährt dem Bund den überwiegenden Anteil an den Staatsaufgaben. Österreich ist in diesem Sinne als unitarischer Bundesstaat konzipiert. Der Bund hat dieses von Anfang an gegebene Übergewicht im Wege punktueller Bundesverfassungsgesetzgebung noch verstärkt, so daß man von einer Kopflastigkeit des Bundesstaates sprechen muß. Etwa hundert Staatsaufgaben im Sinne von Kompetenztatbeständen des B-VG sind derzeit dem Bund verfassungsgesetzlich übertragen. Im selbständigen Wirkungsbereich der Länder verbleibt das, was übrig bleibt. Aber auch dieser Rest kann vom Bund im Wege von Staatsverträgen und von Aktionen in privatrechtlichen Formen unitarisch transformiert werden und wird es auch. Man kann die bundesstaatliche Zuständigkeitsverteilung als unitarisch, kasuistisch und kompliziert umschreiben. Kasuistisch und kompliziert vor allem auch deshalb, weil es bei der Zuständigkeitsverteilung viele Ausnahmen und Ausnahmen von den Ausnahmen gibt und weil

die sprachliche Fassung der Kompetenzbegriffe auf einem völlig uneinheitlichen und unterschiedlichen Abstraktionsniveau steht; die Kompetenztatbestände sind allerdings überwiegend „verwaltungsrechtlich“ konzipiert, nicht „verfassungsrechtlich“. Sie könnten durchaus als Zuständigkeitsumschreibung von Verwaltungsbehörden verwendet werden. Für die Abgrenzung der Kompetenzsphären von Gebietskörperschaften sind sie zu „en detail“ formuliert.

Unitarisch war die Kompetenzverteilung von allem Anfang an. Im Laufe der Verfassungsentwicklung ist sie noch unitarischer und noch komplizierter geworden. Ermacora hat diese Entwicklung als „schlei-

chende Gesamtänderung der Bundesverfassung“ diagnostiziert. Eine Therapie dagegen gibt es aber kaum, da der Verfassungsgesetzgeber sich aus den beiden Großparteien zusammensetzt. Diese dominieren alle Verfassungseinrichtungen und haben auch mit vereinten Kräften die sukzessive punktuelle Verbindlichkeit durchgeführt. Die bundesstaatliche Kompetenzverteilung ist ihr Werk. Sie ist ein Reflex der tatsächlichen Machtverhältnisse in und zwischen ihnen, der Spiegel ihrer Vorstellungen vom Bundesstaat. Ein Ordnungssystem in der Kompetenzverteilung ist nicht erkennbar. Das ursprüngliche Konzept, in den aufgezählten Kompetenzen des Bundes die Kompetenzen der Bundesministerien erkennen zu lassen, wurde schon 1S20 nicht verwirklicht. Ansätze dazu sind im sprachlichen Stil des Kompetenzkatalogs des Bundes bemerkbar, denn dieser Stil ist „verwaltungsrechtlich“. Die Technik der Kompetenzverteilung ist im übrigen materienweise verschieden. Drei Gruppen von Staatsaufgaben werden unterschieden: Abgabenangelegenheiten, Angelegenheiten des Erziehungswesens, des Schulwesens und des Volksbildungswesens und schließlich die Hauptgruppe, die alle anderen Staatsaufgaben umfaßt. Jeder dieser Gruppen entspricht ein eigenes Kompetenzverteilungssystem. In der Hauptgruppe bestehen dem Konzept nach vier Haupttypen und etwa ein Dutzend Sondertypen der Kom-petenzvertedlung. Diese Typologie ist

allerdings durch den Verfassungsgesetzgeber deformiert worden. Zwischen den vier Haupttypen (Gesetzgebung und Vollziehung Bundessache; Gesetzgebung Bundessache, Vollziehung Landessache; Gesetzgebung über die Grundsätze Bundessache, Ausführungsgesetzgebung und Vollziehung Landessache; Gesetzgebung und Vollziehung Landessache) besteht nämlich keine Ausgewogenheit mehr, die zweite Type ist reduziert, Haupttypen sind eigentlich nur mehr die erste und die vierte Type. Die Haupttype ist die erste. Sie wird ergänzt durch eine Reihe von Verfassungsbestimmungen provisorischen Charakters in einfachen Gesetzen, so etwa in den sogenannten Wirtschaf tslenkungsgesetzen. Weder ein inneres noch ein äußeres Ordnungskonzept ist bei der Zuständigkeitsverteilung festzustellen. Das Verhalten der beiden Großparteien dazu läßt sich als opportunistisches Reagieren umschreiben; was fehlt, ist ein planmäßiges Konzipieren. Und nichts berechtigt bis jetzt zur Hoffnung, daß sich eine Änderung des Stils abzeichnen könnte. Auch seitens der Wissenschaft wurde bisher kein Konzept einer Kompetenzenreform geboten. Die Diagnose Klecatskys, die österreichische Bundesverfassung trage innerlich und äußerlich ruinen-haften Charakter, läßt sich am Beispiel der bundesstaatlichen Kompe-

tenzverteilung besonders deutlich nachweisen. Ihre Entwicklung hat sich der Staatsentwicklung zwar angepaßt, aber es handelt sich um Konsequenzen ohne Konzept.

Der Bundesrat — Kritik ohne Konsequenzen

Die Problematik der bundesstaatlichen Organisation zeigt sich aber nicht nur in der Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern, sondern auch im zweiten bundesstaatlichen Wesenselement, im Bundesrat. Man hat ihn als verfassungsrechtliche Totgeburt bezeichnet. Man hat seine Organisation, man, hat seine Kompetenzen als verfehlt bezeichnet. Man hat den Kompromiß zwischen einer der Gleichheit der Länder entsprechenden, gleich starken Vertretung und einer der Bürgerzahl im Land entsprechenden Vertretung (so daß jedes Land mindestens drei, das Land mit der größten Bürgerzahl 12 Mitglieder entsendet) kritisiert. Man hat kritisiert, daß die Mitglieder des Bundesrates vom Landtag des betreffenden Bundeslandes gewählt werden (eine Vorgangsweise, die, wie übrigens auch andere normative Elemente des Bundesrates, aus dem Kremsierer Verfassungsentwurf stammt). Man hat kritisiert, daß für die Mitglieder des Bundesrates der Grundsatz des freien Mandats gilt. Man hat kritisiert, daß der Bundesrat gegen die Gesetzesbeschlüsse des Nationalrates aller Art nur ein Einspruchsrecht, daß er nur in bestimmten Fällen

ein Zustimmungsrecht und daß er in bestimmten Fällen überhaupt kein Recht hat. Seine Kompetenzen zur Mitwirkung an der Vollziehung des Bundes, insbesondere zur Kontrolle des Bundes, wo ihm wohl Interpel-lations- und Resolutionsrecht, aber weder das Recht, Untersuchungsausschüsse einzusetzen noch das Recht der Mißtrauensvotierung zustehen, wurden weniger kritisiert. Mit seinen Rechten der Gesetzesinitiative und dem Recht eines Drittels seiner Mitglieder, die Durchführung einer Volksabstimmung über teiländernde Bundesverfassungsgesetze zu erlangen, hat man sich wenig auseinandergesetzt, vielleicht, weil er von diesen Rechten noch weniger Gebrauch gemacht hat als von den anderen, nämlich fast gar nicht.

Es ist ein verfassungsrechtlicher Gemeinplatz, von einer „überaus schwachen rechtlichen Stellung des Bundesrates“ und von einem „unechten Zweikammersystem“ zu sprechen. Es ist allgemeine Meinung und empirisch nachgewiesen worden, daß die Tätigkeit des Bundesrates ineffektiv ist. Und es ist algemeine Meinung, daß die Schwäche des Bundesrates nicht so sehr in der Schwäche seiner Kompetenz, sondern in der Besetzungsregelung und Besetzungspraxis liegt. Geändert hat sich bisher nichts. Man muß eben auch hier betonen: Die Verfassung — und damit auch der Bundesrat — ist ein Werk der beiden Großparteien. Und die Verfassung — und damit auch der Bundesrat — wurde und wird das, was die beiden Großparteien daraus machen. Auch der Bundesrat ist ein Reflex der tatsächlichen Machtverhältnisse der Großparteien, der Spiegel ihrer Vorstellungen vom Bundesstaat. Die Zweite Kammer ist in der

Staatspraxis von denselben Interessengegensätzen beherrscht wie die Erste Kammer (genauer: von fast denselben, denn auf Grund der Besetzungsmodalitäten, kann ja die FPÖ nicht mitspielen). Der Konflikt zwischen den beiden Großparteien spielt sich daher im Bundesrat unter demselben oder unter verkehrten Vorzeichen ab wie im Nationalrat. Er ist dementsprechend primär „Regierungskammer“, damit Plagiator und Affirmator des Nationalrats oder primär „Oppositionskammer“ und damit Bremser des Nationalrats. Die vielen Reformvorschläge — erinnert sei etwa an Anregungen Frantas, Klecatskys, Kienzls, Kojas, Marcics und Walters, sind von den beiden Großparteien, also vom Verfassungsgesetzgeber, nie ernsthaft ins Kalkül gezogen worden. Ansätze zur Aufwertung, die sich gewissermaßen als periodisch wiederkehrendes Pflichtritual im Bundesrat selbst abspielen, waren bisher nur Vorsätze ohne Konsequenz.

Hinsichtlich der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung bestehen Konsequenzen, aber keine Konzepte, hinsichtlich des Bundesrates gibt es Konzepte, aber keine Konsequenzen. Beide Problemkreise sind Paradebeispiele für das Verfassungsbewußtsein der beiden Großparteien in der Zweiten Republik. Ihr Desinteresse an einer größeren Verfassungsreform erschwert die Modernisierbarkeit des politischen Systems. Die Dauerkritik an einzelnen politischen Institutionen wird — vielleicht wegen der Perma-

nenz — nicht ernstgenommen und ist fast auch schon ein Ritual.

Wie der österreichische Parlamentarismus, ist auch der österreichische Föderalismus vor allem „parteienstaatlich“, aber auch „verbändestaatlich“, „wohlfahrtsstaatlich“ und „international“ transformiert worden. Das soll nicht heißen, daß es zwischen Bund und Ländern keine Spannung mehr gibt. Sicher gibt es noch immer jene großen Interessengegensätze und Spannungen zwischen Bund und Ländern, von denen die Verfassung ausgeht und die sie voraussetzt. Die Sprachrohre dieser Gegensätze und Spannungen wechseln allerdings je nach Anlaß. Die Hochbürokratie der Länder und des Bundes, die Massenmedien, die Parteiführer auf Bundes- und Landesebene, können Sprachrohr sein. Erfahrungsgemäß kommt es dabei vor allem auf die Rollen der beiden Großparteien im Bundesregierungssystem an. Bei einer Alleinregierung einer Großpartei auf Bundesebene wirkt sich der Föderalismus wegen der stärkeren Konkurrenz-, Konflikt- und Kontrollsituation zwischen den Parteien regelmäßig stärker aus als bei einer großen Koalition. Das Spannungsverhältnis Bund—Länder wird durch das Spannungsverhältnis Regierung und Opposition potenziert, insbesondere deshalb, weil die opponierende Großpartei auf Landesebene entsprechende Machtpositionen einnimmt. Der Föderalismus ist parteienstaatlich transformiert worden. Umgekehrt sind aber auch die Parteien vom Föderalismus geprägt worden. Die Verbesserung der Machtposition der SPÖ auf Landesebene ist dafür mitentscheidend gewesen. Die föderative Ordnung hat sich den Verfassungen der Parteien mitgeteilt. Die Verwirklichung der Bundesverfassung und die Realisierung des Föderalismus wird erfahrungsgemäß durch die Parteienverfassungen und das Verhalten der Parteiführer in besonderer Weise influenziert. In den Parteien ist eine Aufteilung des politischen Schwergewichts auf die Bun-desparteizentrale einerseits und die Landeszentralen anderseits festzustellen. In beiden Großparteien läßt sich ein überragende? Einfluß der Landesorganisationen auf die Kandidatenaufstellung für die Wahlen des zentralen Parlaments feststellen. Die Landesorganisationen sind für die Rekrutierung der politischen Führungsgruppen entscheidend. In beiden Großparteien bleiben viele Spitzenpolitiker der Landesebene „Landespolitiker“ und satteln nicht auf „Bundespolitiker“ um. Viele „Bundespolitiker“ haben ihre „Hausmacht“ in einem Land. Aber gerade dadurch können sie innerparteilich großen Einfluß ausüben. Die Landesebene ist daher auch für die innerparteiliche Demokratie wesentlich. Da die Landesinteressen gegenüber dem Bund vor allem durch die Parteiführer auf Landesebene formiert und formuliert werden, der Bund aber seine Interessen durch die Parteiführer auf dieser Ebene artikuliert, widerspiegelt die Auseinandersetzung zwischen Bund und Ländern zu einem Gutteil auch die innerparteiliche Auseinandersetzung und insoweit auch innerparteiliche Demokratie. Leider bleibt diese Diskussion viel zu oft im eigenen Lager. Hier fehlt es ■ noch an Bereitschaft zur offenen Diskussion.

Was bedeutet das alles für die bundesstaatlichen Institutionen der Verfassung? Kann man sagen, der starke innerparteiliche Einfluß der Landesparteiorganisation stärke auch die föderativen Verfassungseinrichtungen? Oder kann man eher sagen, starke Landesparteiorganisationen setzen sich im innerparteilichen Willensbildungsprozeß und damit auch in der Bundespolitik so gut durch, daß sie die föderativen Institutionen gar nicht brauchen (und damit schwächen)? Die Frage des innerparteilichen Föderalismus ist wie die Frage der innerparteilichen Demokratie für die Zukunft unseres Bundesstaatssystems jedenfalls von größter Bedeutung. Das sollte uns aber nicht hindern, Alternativvorstellungen zur derzeitigen bundesstaatlichen Organisation, wie sie die Verfassung normiert, zu entwickeln. Denn die Verfassung muß lebendig bleiben, um als Regierungs- und Kontrollinstrument unseres Gemeinwesens zu funktionieren. Verliert sie an Lebendigkeit, wird sie zu einer Scheinverfassung.

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