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Krankenkasse wird mit Sparkasse verwechselt

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Der „österreichische Gesundheitstag" am letzten Wochenende im November in Baden bei Wien war eine Europapremiere: Erstmals haben sich Angehörige der verschiedensten Heil- und Gesundheitsberufe in einer Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossen und gemeinsam ihre Probleme diskutiert. Zur heiklen Frage der Kostenexplosion im Gesundheitswesen referierte der Innsbrucker Finanzwissenschafter ClemensA. Andreae. Seine pointierten und teilweise provokanten Gedanken werden hier erstmals auszugsweise einem größeren Publikum zugänglich gemacht.

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Der „österreichische Gesundheitstag" am letzten Wochenende im November in Baden bei Wien war eine Europapremiere: Erstmals haben sich Angehörige der verschiedensten Heil- und Gesundheitsberufe in einer Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossen und gemeinsam ihre Probleme diskutiert. Zur heiklen Frage der Kostenexplosion im Gesundheitswesen referierte der Innsbrucker Finanzwissenschafter ClemensA. Andreae. Seine pointierten und teilweise provokanten Gedanken werden hier erstmals auszugsweise einem größeren Publikum zugänglich gemacht.

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Von einer Kostenexplosion an sich zu reden, ist ökonomischer Nonsens. Man kann nur von einer Kosten- und Nutzenexplosion reden, wobei es durchaus sein kann, daß der Nutzen langsamer gewachsen ist als die Kosten - oder umgekehrt ...

Der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttosozialprodukt steigt weltweit. Und zwar um so schneller, je schneller der Wohlstand steigt. Das ist unabhängig vom jeweiligen Gesundheitssystem (wobei vielleicht England eine Ausnahme darstellt).

Wenn es so ist, daß der Anteil der Kosten für das Gesundheitswesen überproportional steigt, dann gibt es dafür zwei Erklärungsmöglichkeiten. Die eine ist: Gesundheit ist ein superiores Gut. Was ist ein superiores Gut?

Das können wir leicht beobachten: Je reicher wir werden, desto mehr geht der Kartoffelverbrauch zurück und der Schweinefleischverbrauch steigt an. Schweinefleisch ist ein superiores, Kartoffel sind ein inferiores Gut - das hat nichts mit der Bewertung an sich zu tun.

Das heißt: Wenn wir reicher werden, können und wollen wir uns in unserem Gesamtbudget mehr Gesundheit leisten. Unsinnig sind natürlich all jene Berechnungen, die sagen, daß die Gesundheitskosten eines Tages hundert Prozent unseres Sozialprodukts verschlingen.

Die Gesundheitskosten steigen und steigen, aber dann werden sie einmal gleich bleiben, zurückgehen, und andere Bedürfnisse nehmen einen höheren Rang ein. Aber noch sind sie auf dem ansteigenden Ast.

Es gibt noch eine zweite Erklärung für die steigenden Kosten: der Wohlstand selbst ist Verursacher von Krankheiten, durch Übergewicht, Alkohol, Rauchen, Umweltverschmutzung.

Drittens: In dem Maße, in dem sich die Bevölkerungsstruktur verschiebt und der Anteil der älteren Menschen zunimmt, steigen naturgemäß die Ausgaben für das Gesundheitswesen.

Während in anderen Bereichen, wenn das Angebot ausgeweitet wird, wegen der Massenproduktion eine Tendenz zur Kostensenkung auftritt und Arbeit durch Kapital ersetzt wird, gibt es im medizinischen Bereich derartige Tendenzen eher weniger. Eine Massenproduktion wäre ja absolut unzulässig und inhuman.

Und dort, wo sie gelegentlich auftritt, wird sie politisch schärfstens kritisiert. Denn: Jeder Mensch möchte während des Krankseins eine persönliche Zuwendung erfahren. Und diese persönliche Zuwendung ist natürlich „teuer" und wird mit zunehmender Freizeit noch teurer werden, wenn man zum Beispiel entsprechend mehr Schwestern einstellen muß.

Außerdem: Die neuen Technologien in der Medizin sind auch sehr häufig nicht solche, die Arbeit sparen, sondern die zusätzliche Arbeit verursachen -noch dazu hochqualifizierte Arbeit ...

Nicht vorbeigehen kann man auch am Problem des Versicherungsschutzes im Gesundheitswesen: Einerseits wollen wir, daß jeder den Zugang zum Gesundheitswesen hat. Andererseits wollen wir, daß nicht jeder, der ein kleines Wehwehchen hat, gleich meint, die Su-permedizin bemühen zu müssen. Einen

Weg dazwischen zu finden, ist sehr schwierig.

Es gibt Leute, die etwas nicht begreifen: daß die Krankenversicherung eine Risikoversicherung ist. Wenn ich mein Risiko versichert habe und gesund bleibe, soll ich glücklich sein. Ich soll sie eigentlich nur in Anspruch nehmen, wenn ich wirklich krank bin.

Es gibt aber viele Leute, die halten die Krankenversicherung für eine Art Sparkasse, in die sie Geld eingezahlt haben, und fühlen sich nun verpflichtet, das Geld hinterher wieder abzuheben. Wenn das jeder tut, kann das keine Versicherung sein. Dieses Verständnis scheint mir in der Bevölkerung noch zu wenig verbreitet...

Eine andere Frage, die man vielleicht doch einmal ökonomisch (unter dem Gesichtspunkt der Eigenleistung) angehen könnte, ist die der direkten Inanspruchnahme: Es gibt auch Familien, die meinen, daß sich Weihnachten bequemer ohne den Senior feiern läßt; sie schieben ihn vor Weihnachten in die Klinik ab, um ihn dann, wenn sie aus dem Schiurlaub zurückgekehrt sind, wieder abzuholen. Die Rente kassieren sie inzwischen munter weiter - und zahlen soll die Krankenkasse ...

Wir formulieren ein Recht auf Gesundheit. Das kann es ja nicht geben -Partner für dieses „Recht" wäre allenfalls der liebe Gott. Das Recht auf Gesundheit kann nur als ein Recht auf medizinische Behandlung formuliert werden. Ob dabei Gesundheit herauskommt, kann man erst nachher sehen.

Im Gesundheitswesen haben wir zudem, im Unterschied zu nahezu allen anderen Branchen, die Anbieterdominanz. Das heißt: Ob jemand krank ist oder nicht, entscheidet nicht der Patient, sondern der Arzt. Und hier besteht natürlich die große Gefahr, daß dann, wenn ein paar Betten leerstehen, einer sagt: reeipe (also die Betten sind zu füllen).

Daraus ergibt sich ein Ziehharmonikaeffekt. Wenn die Betten leerer sind, werden die Leute kränker; und wenn sie voller sind, werden sie weniger krank. Das ist ein Punkt, wo die direkte Verantwortung der Mitarbeiter im Gesundheitswesen angesprochen wird: in der Verkürzung der Aufenthaltsdauer liegen erhebliche Kostensenkungsreserven.

Die gesamte Kosten-Nutzen-Frage im Gesundheitswesen wird schließlich deshalb falsch behandelt, weil wir in der sogenannten volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung für den öffentlichen Sektor immer Input gleich Output rechnen. Das heißt: Wir sagen, was es kostet, ist es auch wert. Das ist natürlich falsch. Denn es kann ebenso mehr oder weniger wert sein.

Wir müssen also den Nutzen unabhängig von den Kosten messen. Das ist die größte Schwierigkeit im Gesundheitswesen.

Wir (das Institut für Finanzwissenschaft an der Universität Innsbruck) haben diese Berechnung einmal bei der neurochirurgischen Klinik in Innsbruck, insbesondere bei Bandscheiben-

Operationen, versucht und ganz erstaunliche Ergebnisse zutage gefördert: daß der Nutzen die Kosten ungeheuer (um fast 40 Prozent) überwiegt.

Das ist in diesem Fall auch ganz klar: Denn die Bandscheibenoperation bedeutet, daß ein 45jähriger Mann wirklich rehabilitiert werden kann, noch zwanzig Jahre lang Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zahlen sowie seine Familie selbst ernähren kann und nicht ein Fall für die Invalidenrente wird. Das Hauptproblem bei einer Kosten-Nutzung-Analyse ist jedenfalls die Bewertung des menschlichen Lebens ...

Der Autor ist Prärektor der Universität Innsbruck und Professor Tür Politische Ökonomie. Der Beitrag basiert auf einer Tonbandabschrift seines Referates am 29. November in Baden.

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