6813430-1972_47_05.jpg
Digital In Arbeit

Kranker Rathausmann

Werbung
Werbung
Werbung

Daß die steigende physische und psychische Belastung des Großstadtmenschen eine zunehmende Erholungsbedürftigkeit mit sich bringt, ist bekannt; in Wien jedoch wird seitens der Stadtverwaltung auf die Lebensqualität kaum Rücksicht genommen. Die dnnerstädtisehen Erholungsbereiche (Parks, Alleen usw.) werden immer mehr eingeengt, der Erholungsbereich in den Vororten beziehungsweise in der Umgebung Wiens wird durch eine rege Sied-lungs- und Bautätigkeit ernsthaft bedroht. Für den Bereich „Erholungsgebiete“ gibt es im Wiener Rathaus keine Kompetenz, daher wird — mehr schlecht als recht — improvisiert. Rettungsaktionen in letzter Minute, meist unter massivem Druck der Öffentlichkeit, werden als umweltfreundliche Pioniertaten gefeiert, während im geheimen eine Scheibe Lebensqualität nach der anderen heruntergesäbelt wird.

Ein Angebot des Landes Niederösterreich, zur Erhaltung und Ausgestaltung des Wienerwaldes gemeinsam einen Verein zu gründen, wurde von der Stadt Wien nicht aufgegriffen, dafür protzen unsere Stadtväter mit Her Errichtung teurer und künstlicher Grünlandschaften (Donaupark, Donauinsel, WIG 74). Kein Wunder, daß der Begriff „Naturpark“ im Wiener Naturschutzdenken nicht zu finden ist. Vorläufig letzter Exzeß dieses schmerzlichen Unverständnisses ist die Errichtung eines Plastikrasens vor dem Rathaus.

Bedeutung und Notwendigkeit der Hygiene werden zwar immer wieder betont, Wiens Stadtväter jedoch geben sich mit Lippenbekenntnissen zufrieden. Laut dem „Handbuch der Stadt Wien 1972“ gibt es in nur acht Bezirken öffentliche Schwimmbäder.

Das bedeutet, daß rund 1 Million Wiener keine annehmbare Entfernung vom Wohnort haben. Nur elf Bezirke verfügen über Sommerbäder und auch an Kinderfreibädern und „Tröpferlbädern“ herrscht Mangel.

Umweltschutz ist im Wiener Budget für 1972 mit nur 650.000 Schilling dotiert, das sind nur 0,003 Prozent des Gesamtbudgets!

Es fehlt ein Netzplan zur Durchführung koordinierter Maßnahmen auf den Gebieten der Luftreinhaltung, der Lärmbekämpfung und des Gewässerschutzes. Es fehlen ein koordiniertes Überwachungsnetz sowie verbindliche Rieht- und Grenzwerte beziehungsweise ein darauf aufbauender „Alarmplan“.

Vielleicht ist es das eigene schlechte Gewissen, das die Wiener Stadträte von einem gezielten Umweltschutz atohält, gehört doch die Stadt Wien selbst zu den gröbsten Umweltsündern:

• Die Ausscheidungen und Rückstände der Müllverbrennungsanlagen dürfen ungestraft unsere Luft verseuchen,

• der neue Autobahnzubringer zur Südost-Autobahn hat den Erholungswert der Draschegründe fast völlig reduziert;

• die Einflugschneise der neuen Piste des Flughafens Wien-Schwe-chat wird noch vielen Anrainern schlaflose Nächte bereiten;

• der für das Fernheizwerk Spittel-au geplante Gasanschluß wurde nicht verwirklicht, so daß auch bei Niederdruckwetter mit öl geheizt werden muß.

Brillantester Schildbürgerstreich jedoch ist die überproportionale Erhöhung des Nachtstromtarifs um 25 Prozent, wodurch die Benutzer der umweltfreundlichsten Energiequelle bestraft beziehungsweise potentielle Benutzer abgeschreckt werden.

Untersuchungen über Konzentrationen umweltschädigender Einflüsse in Wien liefern immer alarmierendere Werte, während die Stadtverwaltung mit einem Achselzucken reagiert und meint, daß die Umweltverhältnisse in Wien ohnehin „relativ gut“ seien.

Die geplanten Vorhaben bis zum Jahr 1980 werden zirka 6,2 Milliarden Schilling kosten, davon hat jedoch die Finanzverwaltung erst 3,8 Milliarden Schilling grundsätzlich genehmigt.

Der Neubau des Allgemeinen Krankenhauses erfolgt schleppend (die Bauleistung ist um 28 Prozent geringer als geplant!).

Immerhin gibt es in Wien noch eine Reihe Privatspitäler mit zirka 4000 Betten. Ohne diese Spitäler wäre eine ausreichende medizinische Versorgung in Wien nicht gewährleistet, dennoch weigert sich die öffentliche Hand noch immer, diese letztlich auch gemeinnützigen Institutionen wirkungsvoll zu unterstützen.

Trotz zahlreicher Vorschläge ist es dem städtischen Personalreferat noch nicht gelungen, den Personalmangel in den städtischen Spitälern auch nur einigermaßen zu lindem. Während der Sommermonate waren zirka 4000 Spitalsbetten wegen Personalmangels gesperrt (das sind mehr als 25 Prozent der städtischen Spitalsbetten!).

Es erscheint unverständlich, daß angesichts dieses Personalmangels keine Initiativen erfolgen, um den Schwesternberuf attraktiv zu machen. Es bestehen keine entsprechenden Aufstiegsmöglichkeiten und es gibt auch keine Bestrebungen, die soziale Stellung der Schwestern anzuheben. Ein eigenes Gehaltsschema

(wie etwa in Niederösterreich) gibt es in Wien nicht; eine Initiative in Richtung Teilzeitbeschäftigung (mit der in Deutschland große Erfolge erzielt werden) scheiterte am Widerstand der Gewerkschaften.

Der Zwist um die 29. ASVG-No-velle gewinnt deshalb eine interessante Dimension, wenn man bedenkt, daß in der ärztlichen Betreuung zahlreiche Engpässe auftreten, weil die Krankenkassen nur einen geringen Prozentsatz von Fachärzten unter Vertrag haben. In Wien gibt es rund 400 Fachärzte, doch stehen davon nur zirka 60 unter Vertrag mit der Wiener Gebietskrankenkasse. Zahlreiche Fachärzte aber wären bereit, mit der Kasse zusammenzuarbeiten.'

Daß die medizinische Betreuung der Bevölkerung vor imposanten und teuren Kinkerlitzchen (Donauturm, Stadthallen-Filmgesellschaft) Vorrang haben sollte, ist für den Steuerzahler eine Selbstverständlichkeit. Bürgermeister Slavik meinte jedoch im Gemeinderat (damals noch als Finanzstadtrat): „In diesen Fällen gibt es riesige Zeitungsartikel gegen die Stadt Wien, und es heißt, daß wir uns weigern, lebensgefährlich erkrankte Patienten aufzunehmen. In Wirklichkeit ist das die Auseinandersetzung mit den Bundesländern“

(14. Juli 1967). Da Wien ringsum von einem Bundesland umgeben ist, könnten Kompetenzschwierigkeiten, wer im gegebenen Fall einen Patienten behandeln „darf“, wohl nur mit einem Bundesland auftreten und auch nur dann, wenn man sich bewußt ist, daß eine aus mehreren Gründen ineffiziente medizinische Versorgung täglich den Plafond der Leistungsfähigkeit zu sprengen droht.

• Es fehlt die Gesundheitserziehung als Pflichtfach in den Schulen (Hygiene- und Erste-Hilfe-Unterricht);

• die Wiener Tbc-Untersuchungsstellen sind nicht in der Lage, generelle Röntgenuntersuchungen durchzuführen. Eine „Antiraucherkam-pagne“ wurde nicht gestartet;

• die vorhandenen Gesundenunter-suchungen der Stadt Wien konnten bislang nur „im geheimen'“ arbeiten, denn selbst bei minimaler Werbung hätten sie den Andrang nicht mehr bewältigen können;

• Spezialuntersuchungen in Zusammenarbeit mit den praktischen Ärzten fehlen noch immer, insbesondere im Hinblick auf Herz- und Krebserkrankungen sowie Zuckerkrankheit erscheinen aber gezielte Untersuchungen als vordringlich.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung