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Kratzen am Partei-Tabu

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Gorbatschows Abrechnung mit der jüngsten Vergangenheit ist messerscharf. Die anvisierten Reformen gehen an die Substanz. Wird der Kremlchef sein Tempo durchhalten?

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Gorbatschows Abrechnung mit der jüngsten Vergangenheit ist messerscharf. Die anvisierten Reformen gehen an die Substanz. Wird der Kremlchef sein Tempo durchhalten?

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An der verspäteten Vollversammlung des Zentralkomitees Mitte letzter Woche zeigte Parteichef Michail Gorbatschow, wie ernst es ihm mit dem Vorsatz ist, die Sowjetunion, Großmacht nur im politischen und militärischen Sinn, wirtschaftlich indes ein Entwicklungsland, ihrer lähmenden Starre zu entledigen.

An historischer Bedeutung ist die vierstündige Rede Gorbatschows vor dem höchsten Parteigremium mit Nikita Chruschtschows- Entthronung Stalins im

Februar 1956 gleichzusetzen. Nein, an der Allmacht der Partei rührt der Parteichef nicht, erstmals geht er aber die schwerfällige Parteibürokratie frontal an — getreulich dem Gebot, die Partei habe ihr Haus erst in Ordnung zu bringen.

Mit der Forderung nach geheimer Abstimmung zur Wahl von Parteifunktionären bis hinauf zu den Parteichefs der Republiken hat der Kremlherr die wohl radikalsten Reformen angebahnt, sofern das ZK seine Billigung erteilt.

Seit den Tagen Lenins war dies

nicht mehr gebräuchlich, genausowenig wie die Aufstellung von mehreren zur Wahl gestellten Kandidaten. Gorbatschow geht i weiter als es Chruschtschow je im Sinne stand.

Bisher war, der Farce von einem demokratischen Zentralismus entsprechend, die Zustimmung zum jeweils einen von oben ausgewählten Bewerber durch Handerhebung das einzig gültige Muster im gesamten Osten.

Auf lokaler Ebene war die Frage in Ungarn durch die Wahl mehrerer Kandidaten aufgeworfen worden. Sonst aber blieb die Partei tabu. Ob dereinst auch die Parteispitze, Politbüro und sogar der Parteiführer selbst - echten Wahlen ausgesetzt wird, ist vorderhand noch nicht abzusehen.

Es läßt sich jedoch schwer vorstellen, daß ein einmal eingeleiteter Prozeß auf halbem Wege von selbst stehenbleibt.

Ein zweischneidiges Schwert für den Schöpfer der Reform. Wer gibt die Garantie, daß die Kollegen im Politbüro nicht zu diesem echt demokratischen Mittel greifen, um den Chef einer mißbilligten Entscheidung wegen loszuwerden? Auch Chruschtschow war vom aufgewerteten ZK gestürzt worden, ehe mit Hilfe von Flugzeugen alle Mitglieder zu-

sammengetrommelt wurden, um diese Entscheidung zurückzunehmen.

Gorbatschows „zweite Revolution“ setzt gleichzeitig oben und unten in der Parteiführung und beim Fußvolk an. „Demokratisa-zija“ (größere Demokratie), das Schlagwort der Stunde, soll zu einer besseren Führung, zur größerer Effizienz, breiter Anerkennung der offiziellen Politik und aktiver Teilnahme der Individuen am politischen Leben führen.

Augenfällig wirbt Gorbatschow um das Vertrauen der Landsleute. Sein Wandel der Gesellschaft trägt vor allem ein psychologisches Merkmal: Systemänderungen, Reformen gingen ins Leere, so sagt er wiederholt, wenn man die Menschen nicht auf seine Seite bringt, ihr Mitwirken und ihre Zustimmung erhält.

Die Abrechnung mit Breschnew und Stalin ist unvermeidbar und logisch. Diese Parteiführer haben die Bürger zu phlegmatischen Jasagern erzogen, während Gorbatschow, um die Modernisierung des Landes voranzutreiben, frei entscheidende Mitmenschen mit Initiativen benötigt.

In dieser gründlichen Umbildung hat der resolute Kremlherr noch knochenharte Arbeit vor sich. Nicht weniger in der Anstren-

gung, den Geist der konservativen Privilegierten zu brechen. „Wir wurden oft gefragt, ob wir uns nicht in eine scharfe Umkehr hineinmanövriert haben“. Diese rhetorisch hingeworfene Wendung muß sich Gorbatschow tatsächlich allen Ernstes stellen.

Er ist bereit, Risiken, freilich wohlkalkulierte, einzugehen und fühlt sich auffallend sicher. Es gibt allerdings keine glaubhafte Alternative in der Parteiführung, es sei denn der Rückfall in den Breschnewschen Schlendrian.

Gorbatschow ist heute schon dort, wo Breschnew erst nach acht Jahren Herrschaft gestanden war. Behutsam entledigt er sich seiner Gegner und der alten Breschnew-Parteigänger.

Der geschaßte Parteisekretär von Kasachstan, Dinmahamad Kunajew, ist der letzte, der das Politbüro verlassen muß, ohne daß freilich ein Anhänger der Reformen jetzt schon ins Politbüro nachgezogen wird.

Ebenso muß Politbürokandidat und Propagandachef Simjanin, ein von Breschnew hochgezogener Mann, dem Vertrauten Gorbatschows, Jakowlew, Platz machen. Es bleiben jedoch der Ukrainer Schtscherbizki, nach einer harten Schelte über den wirtschaftlichen Zustand seiner Republik, und auch Staatspräsident Andrej Gromyko als Rest der alten, jeder Art von Großreinemachen abholden Garde.

Die jüngeren Reformisten, wie Moskaus Parteichef Jelzin, der erwähnte Jakowlew und Weißrußlands Parteiboß Sljunkow, allesamt im Kandidatenstand, müssen sich noch ein Weilchen gedulden, bis sie in der Schaltzentrale der Macht mitentscheiden können.

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