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Kreativer denken -Erfüllter leben

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Kreativität verlangt eine Situationsanalyse. Genau wie ein Industrieunternehmen jedes Jahr eine Bilanz aufstellt, so soll der einzelne handeln. Dieser Schritt führt zu einer besseren Übersicht über Erfolge, aber auch über negative Erfahrungen. Eine kreative Bilanz bedeutet, daß wir aufrichtiger sind und daß wir unsere Fehler korrigieren können.

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Kreativität verlangt eine Situationsanalyse. Genau wie ein Industrieunternehmen jedes Jahr eine Bilanz aufstellt, so soll der einzelne handeln. Dieser Schritt führt zu einer besseren Übersicht über Erfolge, aber auch über negative Erfahrungen. Eine kreative Bilanz bedeutet, daß wir aufrichtiger sind und daß wir unsere Fehler korrigieren können.

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Wir sollen uns mehr Gedanken über unsere Ziele machen und auch darüber, wie wir sie realisieren können. Diese Ziele wechseln dauernd. Die Zukunft sieht meistens so vielversprechend aus, aber die Wirklichkeit ist anders. Wir fragen zu wenig: Was bringt uns echte Freude? Was intensiviert unser Gemeinschaftsgefühl? Was führt zu „Gipfelerfahrungen“? Stattdessen bleiben wir an der Oberfläche und werden von den Idolen unserer Umwelt beherrscht.

Kreativität ist unmöglich ohne Vertiefung unserer Wahrnehmungsfähigkeiten. Es gibt zwei Formen der Blindheit: die eine ist körperlich und sicher eine Tragödie, die andere kann noch destruktiver sein, denn sie ist eine existentielle Blindheit. Dieser Zustand bedeutet Isolierung - ein Leben an der Oberfläche, ein dauernder Zustand der Abgestumpftheit.

Machen wir einen Test: Fragen wir nach einem Theaterstück einen Bekannten, was er gelernt hat, und so oft wird die Antwort unbefriedigend sein - noch mehr nach einem Monat oder einem Jahr. Fragen wir ihn, was er im letzten Jahr gelesen hat und seine Antwort wird meistens zögernd und oberflächlich sein. Wir haben nicht gelernt zu lesen, Bücher zu schätzen, zuzuhören, den anderen zu verstehen, Sympathie und Mitgefühl zu entwickeln. Wir haben viel Information, aber keine echte Kommunikation.

Fangen wir an, tiefer zu sehen, zu analysieren, zu horchen und oft die Stille zu kultivieren. Fangen wir an, weniger vom Erfolg berauscht zu sein und mehr an unserer persönlichen Entwicklung zu arbeiten. Was können wir tun in dieser Hinsicht? Wie können wir unsere Sinne aktivieren? Die Antwort ist: Wir müssen Künstler werden und die Kunst des Lebens kultivieren. Als Kinder hatten wir so oft gedichtet und gemalt. Können wir das nicht auch als Erwachsene tun? Erinnern wir uns, wie wir ein Märchen erlebten, wie wir mit totaler Konzentration zuhörten. Warum können wir das nicht auch als reife Menschen tun?

Ich habe einmal in einem Seminar Studenten gefragt, was sie tun würden, wenn sie erfahren würden, daß sie nur noch einen Tag zu leben hätten. Die Antworten waren interessant. Einer sagte, daß er sich betrinken würde, ein zweiter, daß er Drogen nehmen würde, ein dritter wollte sexuelle Abenteuer, ein vierter wollte sofort Selbstmord begehen, ein fünfter wollte gute Musik hören ... Doch überlegen wir: ist nicht jeder Tag unwiederholbar, und warum leben wir so unbewußt? Warum haben wir die Illusion, daß wir so viel Zeit haben, wenn alles so begrenzt ist?

In dieser Sicht scheinen viele unserer Errungenschaften trivial, viele unserer Erfolge oberflächlich. Eine konstruktive Lebensphilosophie ist Fundament für alles. Das heißt nicht nur ein Wissen über die Geschichte der Philosophie. Dauernd müssen wir Fragen stellen wie die folgenden: Wie können wir durch diese Studien unsere eigenen Einsichten und Haltungen verbessern? Wie können wir dadurch die Krisen des Lebens besser meistem?

Besonders Epiktet kann ein Vorbild sein. Er wurde als Sklave geboren, später freigelassen. Er war an einem Bein gelähmt und doch ein Symbol der Freude. Sein Leben war gekennzeichnet durch Einfachheit. Er lehrt uns unter anderem: „Begnüge dich mit dem, was geschieht, und dein Leben wird glücklich sein...

Manches steht in unserer Macht, manches nicht. In unserer Macht steht das Denken, das Verlangen und das Meiden - dies sind also alle Dinge in uns. Nicht in unsere Macht gegeben sind ... Besitz, Ansehen und Würde - also alle außer uns ...“

Der Einwand kann sein, daß wir nicht so leben und eine so einfache Existenz führen können. In der Tat, würde unsere Wirtschaft nicht zusammenbrechen, wenn viele Menschen die Stoische Philosophie als Lebensstil annehmen würden? Die Antwort ist klar: Es besteht keine Gefahr, daß viele ein einfaches und bescheidenes Leben führen werden, daß sie sich nicht den Versuchungen des Materialismus unterwerfen werden. Ganz im Gegenteil: die Gefahr besteht, daß wir immer mehr wollen, immer mehr erwarten, immer mehr vom Gigantismus beherrscht werden, daß wir wie verwöhnte Kinder agieren werden, die so viel besitzen und so wenig schätzen.

Versuchen wir eine Leidenschaft für das Lernen zu entwickeln - vielleicht ist das das beste Mittel gegen Neurose. Versuchen wir, einen besseren Stil zu erreichen in unserem Denken, in unserem Schreiben, in unserer ganzen Ausdrucksweise. Ist nicht Stil viel mehr als eine abstrakte Form, sondern ein Zeichen für unser ganzes Wesen? Unsere Gedanken sind wie Raketen. Versuchen wir sie festzuhalten in einem Tagebuch. Wir brauchen nicht immer darin zu schreiben. Wochen können vergehen ohne Notizen. Ein kurzer Satz kann mehr als viele Seiten bedeuten.

Versuchen wir, konstruktive Vorbilder zu haben. Man kann einwenden, daß in der Umgebung keine schöpferischen Menschen vorhanden sind. Heißt das nicht, daß wir zu wenig die Möglichkeiten • unserer Nachbarn erkannt und daß wir zu sehr für uns selbst gelebt haben? Versuchen wir, Freunde zu sein, nicht um anderen zu imponieren oder nur, um populär zu werden, sondern weil wir dadurch ein Gefühl der Geborgenheit erreichen und auch unser Leben in jeder Hinsicht erweitern.

Versuchen wir, das Positive in dem anderen zu sehen, ob im Beruf oder in der Familie. Das ist schwierig, denn so oft erleben wir Frustration und Enttäuschung und das führt zu einer argwöhnischen Haltung. Sparen wir nicht mit der Anerkennung. Wir alle brauchen sie - besonders wenn wir wenig Erfolg haben. Bedenken wir, wieviel Zeit wir mit Intrigen vergeuden, die auf uns selbst zurückkommen und uns in jeder Hinsicht begrenzen.

Theoretisieren über Kreativität kann eine Zeitvergeudung sein. Selbst schöpferisch zu sein - das ist die Herausforderung und das bedeutet improvisieren. In einem Buch über amerikani sches Management, „Gewinner um jeden Preis“, werden verschiedene Persönlichkeitsstrukturen beschrieben, die Führungsaufgaben haben: der Organisationsmensch, der Dschungelkämpfer, der Experte und der Spielmacher. Das Interessante in diesen Beschreibungen ist, daß alle wenig Herz haben, daß ihre Fähigkeit, mitzufühlen, unterentwickelt und daß ihre Menschlichkeit minimal ist.

Die Aufforderung im Neuen Te- , stament, liebesfähiger zu werden, gilt für uns alle. Das ist kein, abstrakter Idealismus. Das ist kein lebensfremder Rat. Das ist kein Luxus in der atomaren Welt, die ungeheure destruktive Möglichkeiten hat. Kreativität ist viel mehr als eine Technik, viel mehr als eine Methode, um eine Organisation besser zu gestalten. Kreativität ist eine Provokation für den einzelnen und die Gesellschaft, die Lebensstrategie zu überdenken, bevor es zu spät ist und bevor Vernichtung kommt Bedeutet das nicht Caritas als Weg zur Menschlichkeit?

Der Autor ist amerikanischfer Erziehungswissenschafter und ehrenamtlicher Konsulent der UNIDO für internationale Ausbildungssysteme.

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