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Krebs und Lebensstil

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„Wie krank ist unsere Medizin?“ wurde beim 11. Salzburger Humanismusgespräch gefragt. Aus einem der dort gehaltenen Referate (sie erscheinen im April im Druck bei Styria) eine kurze Kostprobe:

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„Wie krank ist unsere Medizin?“ wurde beim 11. Salzburger Humanismusgespräch gefragt. Aus einem der dort gehaltenen Referate (sie erscheinen im April im Druck bei Styria) eine kurze Kostprobe:

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Die Krebsepidemiologie gehört meines Erachtens zu den wichtigsten Forschungsinstrumenten der modernen naturwissenschaftlichen Analyse des Krebsgeschehens; freilich nur dann, wenn man hinsichtlich der Gegenstände, die man statistisch untersuchen kann, sich keine vorzeitigen Beschränkungen auferlegt! Denn es lassen sich nicht nur naturwissenschaftliche, d. h. vor allem biologische, sondern heute

auch sehr differenzierte soziologische oder psychosoziale Phänomene einer gediegenen statistischen Analyse unterwerfen.

Das erweitert das substantielle Blickfeld für die statistisch erreichbaren Phänomene der Krebskrankheit und ihrer oft sehr unterschiedlichen Verteilung in der Bevölkerung, z. B. in verschiedenen Kontinenten, innerhalb der Nationen und Rassen, in den verschiedenartigsten ethnologischen Situationen enorm, so daß es geboten erscheint, die psychosozialen Faktoren der Krebskrankheit heute ebenso in das epidemiologisch-statistische Blickfeld zu rücken wie die somatischen Befunde und die Einflüsse der naturwissenschaftlich nachweisbaren Umwelt-Noxen…

Der positivistische Trend unserer Zeit und ebenso unserer Tumorforschung begegnet dieser Frage mit dem Argument: das Tumorwachstum sei ein rein biologisch bedingter autonomer Prozeß, in der Regel verursacht durch toxisch wirksame Umweltnoxen.

Allenfalls in einem fortgeschrittenen Stadium spiegle sich die Krankheit auch im Gemüt des Kranken, aber erst dann, wenn die unheilvolle Katastrophe im Organismus nicht mehr aufzuhalten sei. Vor allem in der so weit verbreiteten Krebsangst komme diese Furcht vor einer oft zu spät entdeckten und dann unrettbar zum Tode führenden Erkrankung ebenfalls zum Ausdruck.

Doch das ist nur ein häufig herbeigezogenes Argument, um die Möglichkeit der Einwirkung psychosozialer Faktoren auf das Krebsgeschehen von vornherein als unsinnig darzustellen und aus dem offiziellen Forschungsprogramm weitgehend zu streichen …

Wie ich schon sagte, gehört der Krebs zu den großen künstlichen Seuchen unserer Zeit.

Als Krankheit ist er seit dem Altertum bekannt; Galen hat bereits die Depression als ein psychisches Begleitsymptom der Krebs- krankheit beschrieben. Doch als Seuche tritt der Krebs erst in unserer Zeit in Erscheinung. Die darüber geführten weltweiten Statistiken sagen aus, daß sich in den letzten Jahrzehnten einige Krebsarten, wie z. B. das Lungen- Karzinom oder das Dickdarm- Karzinom, aber auch der Brustkrebs deutlich vermehrt haben,

während sich der Magenkrebs, vor allem in westlichen Industrienationen, eindeutig vermindert hat.

Ob in den letzten Jahrzehnten die Gesamtzahl der Krebserkrankungen erheblich zugenommen hat — wie dies immer wieder behauptet wird -, bleibt nach wie vor zweifelhaft. Es gibt jedenfalls stichhaltige, statistisch belegte Argumente gegen diese Behauptung. Dennoch besteht an der Tatsache der Krebskrankheit als einer vor allem in den Industrienationen weitverbreiteten Seuche kein Zweifel.

Higginson, einer der führenden internationalen Epidemiologen auf dem Gebiete der Krebsforschung, macht vor allem die Änderung unseres Lebensstils dafür verantwortlich, daß der Krebs in den Todesursachen der Gegenwart so stark in den Vordergrund

getreten sei. Unter Lebensstil versteht er alle Faktoren, welche das Leben des Menschen in einer spezifischen geographischen, ethnischen und sozialen Umwelt bestimmen und gestalten.

Aus der Quintessenz moderner epidemiologisch-onkologischer Forschung eröffnen sich für die psychosoziale Forschung die folgenden Wege:

1. Wir können anhand einer Reihe schon vorhandener und sorgfältig aufgebauter Krebsregister die onkologische Statistik verschiedener Ethnien miteinander vergleichen und die Resultate einer differenzierten wissenschaftlichen Betrachtung unterwerfen. Dies geschieht vor allem in Amerika, aber auch in einem Land wie China, bereits in großem Umfang.

2. Dieses Prinzip läßt sich auch auf kleinere ethnische Gruppen anwenden, welche sich voneinander in ihrem Lebensstil ausdrücklich unterscheiden.

3. Die soziobiographische Forschung erlaubt eine detaillierte Analyse des Lebensstils des einzelnen Kranken.

4. Ein tieferer Einblick in die psychosoziale Situation des Krebskranken und ihre Dynamik für Entstehung und Verlauf der Erkrankung läßt sich nur dann gewinnen, wenn wir in sorgfäl- tigst erhobenen soziobiographi- schen Anamnesen die Wandlun

gen der psychosozialen Situation im Laufe der Biographie und vor allem die mit ihr verbundenen Lebenskrisen genauer kennen, und zwar in zweifacher Hinsicht:

Sie betrifft

a) einerseits die psychosoziale Situation, in die der Kranke hineingeboren wird und der er mehr oder weniger ohnmächtig ausgeliefert bleibt, solange er heranwächst.

Und sie betrifft

b) zum anderen die vielfältigen Lebenssituationen und Lebenskrisen, die der erwachsene Mensch selbst zu gestalten oder mitzugestalten vermag oder denen er sich ohnmächtig ausgeliefert fühlt, entgegen seinen Bestrebungen, „aus seinem Leben etwas zu machen“!

Durch diese verschiedenartigen psycho-soziodynamischen Perspektiven wird das Blickfeld nicht nur in Hinsicht auf den einzelnen Kranken und seine Erkrankung, sondern vor allem in Hinsicht auf die gesellschaftlichen Dimensionen des Krankseins und der Krankheit wesentlich erweitert.

Bezogen auf die Krebskrankheit, haben wir es also jetzt nicht mehr nur mit naturwissenschaftlich-medizinischen Fakten zu tun, mit denen wir uns vor allem in der Diagnostik und Therapie auseinanderzusetzen haben, sondern die systematische Untersuchung des Lebensstils eröffnet den Blick auf die biographische und psychosoziale Situation des Kranken in seiner gesamten inneren und äußeren Existenz.

Prof. Dr. Jacob ist Kommissarischer Leiter der Abteilung für Arbeits- und Sozialhygiene und Gesundneitsplanung am Klinikum der Universität Heidelberg.

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