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Kreuz über der Scholle
Brasilia — eine Überfülle von Lichtern, Breitstraßen, Parkanlagen, Springbrunnen und Staatsmonumenten empfängt den ermüdeten Besucher nach der vielstündigen Fahrt durch die eintönige, sanftwellige Einöde des brasilianischen Zentralhochplateaus.
1100 Meter hoch, von leichten Randzügen (1350 Meter) umgeben, ist die neue Hauptstadt gelegen. 1960 wurde sie eingeweiht. Von den heutigen 600.000 Einwohnern — übrigens sind 65 Prozent, also 390.000, unter sechzehn Jahren — residieren nur 180.000 im privilegierten Stadtkern, der mehr der symbolischen Empfangsund Verwaltungsknotenpunkt der Regierung sowie das gehobene Wohnzentrum der Staatsangestellten und Militärs ist. Die Hauptmasse lebt in den zehn Trabantenstädten (Cidades Satelites), von denen zum Beispiel Taguatinga mit 195.000 bereits Brasilia überflügelte und Gama mit fast 100.000 nachrückt. Ihre Bewohner verdienen sich den Lebensunterhalt durchwegs als Bauarbeiter in der Hauptstadt oder im örtlichen Kleinhandel und durch Alltagsaufträge. Die Wachstumsziffer dieser Satellitenstädte übertrifft alle Vorstellungen. Am 1. März 1971 wurde Ceiländia gegründet und zählte nach genau einem Jahr schon 94.000 Ansiedler mit sechs Volksschulen und zwei Gymnasien!
Brasilia steht heute ebenbürtig neben Rio de Janeiro (kulturell-soziales Zentrum), Säo Paulo (industrielles Zentrum) und Salvador (hi-storisch-folkloristiisches Zentrum) als politisches Herz und verwaltungsmäßiger Kopf des ganzen Landes. Die anfänglich diskutable Stadtgründung hat das historische Verdienst, die Überbevölkerung und Überbetonung des schmalen Küsten-slreifens (Richtung nach außen) auf das eigene weite und reiche Hinterland (Richtung nach innen) gelenkt zu haben als Zeichen nationalen Erwachens. Doch will der gewagte und gelungene Bau Brasilias viel mehr darstellen. Er repräsentiert den Zu-kunftsglauben der Brasilianer an ihre anbrechende Südamerika- und Weltführunigsrolle und versinnbildlicht darüber hinaus das Selbstbild ihres eigenen Wesens und Landes in der einladenden Schönheit, den unerschöpflichen Formen, dem ästhetisch-künstlerischen Empfinden, den materiellen und menschlichen Reichtümern und der alles aufnehmenden • Seele. Nach dem Gründerdreigestirn (Kubitschek, Niemeyer, Costa) sollte Brasilia das „Modell einer geordneten, humanen und glücklichen Menschengemeinschaft“ sein.
Lucio Costa, das Kind einfacher Landleute, hat die Stadt in Kreuzesform entworfen, „wie einer, der über die Erdscholle das Kreuz zieht und damit von ihr Besitz ergreift“. Brasilia sollte ja ursprünglich den Namen „Wahres Kreuz“ erhalten, und bis heute trägt das Stadtwappen das pfleilhaft gezeichnete, expansive Grundkreuz.
Entlang des Längsbalkens (14 Kilometer, zwölf parallele Fahrbahnen) befinden sich Präsidentenpalast, Nationalkongreß, Regierungssitz, Oberster Gerichts- und Rechnungshof, Ministerien, Kathedrale, Fernsehturm (218 Meter), Nationaltheater,
Stadtbehörden. Den Querbalken entlang (18 Kilometer, 15 Fahrbahnen) liegen die Wohnblocks, Kirchen, Hospitäler, Schulen, Büros, Geschäfte, Banken, Hotels, Kinos. Am Schnittpunkt der beiden Häuptachsen steht der vierstöckige Autobusbahnhof, das größte und genialste Bauwerk Brasilias. In ihn münden 33 Einzelfanbahnen ampellos und kreuzungsfrei ein, und von allen Seiten kann man ohne Stockung vorbeifahren oder einbiegen.
Doch nur die ersten Residenzen wurden mit individueller Architektur, auserlesenem Material und gehobenem Sozialmilieu errichtet. „Stadt ohne Seele“ — so heißt und ist heutzutage Brasilias Kehrseite. Eine neuere, rasche und gewinnziehende Bau- und Lebensweise hat dem idealen, humanen, ästhetischen Originalplan seine Wärme, seinen Reiz und seine Einmaligkeit genommen.
Auch über der Stadt der Superlative und Kosenamen — „Paradieses-“ und „Jahrhundertstadt“. „Gigant“ und „Herz Brailiens“, „Stadt der Hoffnung und des Fortschritts“ — stehen dunkle Wolken. Das großartige, signalfreie Straßennetz, das selbst im Stadtherzen 100 Stundenkilometer ermöglicht, weist die relativ häufigsten Todesunfälle des ganzen Landes auf (von durchschnittlich fünf Sterbenden pro Tag sind zwei Autounfallopfer). Die Totalneugründung, die stich sozusagen täglich durch Zustrom und Ausbau fortsetzt, bringt Traditionslosigkeit und Kontaktarmut mit sich, die wiederum durch die Kälte der Wohnblocks und die Unstetigkeit ihrer Bewohner noch gesteigert werden. Die fehlende Industrie und der weite Antransport bedingen teuerste Preise. Der Großstadtkomfort und die Lebenshetze vertuschen nicht den Mangel eines sozialen, kulturellen, historischen und menschlichen „Hinterlandes“ dieser abgeschlossenen Kollektivgemeinschaft.
Rund fünf Kilometer entfernt vom Knotenpunkt der Stadt, vom Autobusbahnhof, liegt das Zentrum einer Pfarrei, die Steyler Missionaren anvertraut ist. Auffalend ist die soziale, psychologische und finanzielle Unbeständigkeit ihrer 7600 Bewohner, die auf 44 Großwohnblöcke zu je 28 bis 36 Appartements verteilt sind. Weitere 22 Residenzblocks stehen vor der Fertigstellung. Es herrscht ein tagtägliches Eintreffen und Niederlassen, dem allzuoft ein rasches Umziehen oder auferlegtes Versetztwerden folgt. Alle sind sich untereinander und den Seelsorgern gegenüber Fremde. Alle ringen mit den typischen Anfangs- und Umstel-hmgskrisen: religiös-menschliche Entwurzelung, besorgte Existenzgründung, teurer Appartementskauf, langfristige Wagenbeschaffung (hier durch die riesigen Entfernungen unerläßlich) und häufiger Berufswechsel. Hier lebt nicht der schlichtgläubige, passiv-ergebene, herzlichsolidarische Soziaknensch des Hinterlandes, sondern der kritisch-skeptische, existenzbangende, ungehemmte Nummernmensch der komfortablen, abgeschlossenen, asozialen Wohnkaserne. In der noch jungen Pfarrei drückt diese unstete, gefühlsarme Großstadtatmosphäre doppelt, da es im ganzen Bezirk noch keinen sozialen Treffpunkt, kein Kino, kein Theater, kein Einkaufszentrum, keine Parkanlagen, noch gesunde Vergnügungsmöglichkeiten gibt.
Die Seelsorgsarbeit , wird durch Sektenüberflutung und 'synkretisti-schen afro-brasilianischen Spiritismus weiter erschwert. Ein Durcheinander von 20 bis 30 Religionen, Prozessionen, Täufern, Wundertätern, Bibelpredigem, Lautsprechern, Sanatorien, Heiligen des Spiritismus und Gnadenbildern der Sekten hämmern in den Vorstadtperipherien auf die Neuankömmlinge ein. Hier in der modernsten Hauptstadt der Welt feiern Spirtisten an Straßenkreuzungen und am nächtlichen Seeufer ihren ekstatischen, aus der Sklavenzeit stammenden katholisch-afrikanisch-indianischen Mischkult mit Schnapsopfern, schwarzen Hühnern, Buntkerzen und (jeweils nach Mitternacht) Beschwörungen beziehungsweise Widerrufung von teuflischen Einflüssen. Selbst führende Kätechistinnen wurden ertappt, wie sie dreimal wöchentlich ins 62 Kilometer entfernte „Vale do amanhecer“ (Morgental) fuhren, bis in die Morgenstunden hinein tanzten, auf Heilung oder Prophezeiung oder Segnung warteten, den Geist eines mächtigen Verstorbenen zu empfangen glaubten und in kollektiv-hypnotische Schreie und Bewegungen ausbrachen. Kurz darauf wohnten auch sie wieder der Messe bei, standen in der Reihe der Kommunizierenden und beteten den Rosenkranz, weil es ihnen „so im Spiritistenzentrum empfohlen worden“ war.
Dieser eigenartigen- Anziehungskraft des — seiner Form nach katholischen, seinem Inhalt nach heidnischen — Spiritismus erliegen nicht nur arme, leidende, zufluchtsuchende Nichtshaber der Unterklasse, sondern auch Ingenieure und Doktoren im teuersten Luxusauto. Denn dieser mystische Synkretismus bietet für alle und jeden ein vielverzweigtes, angepaßtes, bis in den nachfolgenden
Alltag weitergelebtes Glaubens-, Be-tätigungs- und Bruderschaftsgewebe. Eine unüberschaubare, sich als wissenschaftlich ausgebende Literatur und gutgedrehte Spielfilme in den Kinos proklamieren den Spiritismus als die echte brasilianische Zukunftsreligion, die den Katholizismus nicht verfemt, sondern einbezieht. Der große Dichter Castro Alves sagte das Wort: „Hier mischt sich alles und mischt sich immer mehr.“
Man meint oft, daß diese Anschau-ungs- und Kultusvermischung eine bloße Folge von fehlender Glaubensunterweisung oder unterentwickelter Kultur sei. Das ist nicht voll zutreffend. In der brasilianischen Seele (besonders der Küsten-, Mittel- und Nordgebiete) trifft sich die historischanthropologische Doppelbewegung von Europa und Afrika, von katholisch-festen Dogmen und heidnischursprünglichen Religionsausbrüchen. Der Durchschnittsbrasilianer, dessen Körper aus Bewegung und dessen Seele aus Emotionen gewoben ist, findet also in der römisch-europäischen, rein intellektansprechenden Liturgie nicht die ihm lebenswichtige, Leib-Geist-Gemüt einbeziehende Religions-,.Betätigung“. '
Vielleicht werden systematische Familienbesuche und innerhäusliche Bibelliturgien die asozialen, sektenüberschwemmten, abstehenden Großblöcke in authentische, solidarische Basisgruppen umformen, jeweils unter der Leitung einer verantwortungsbewußten „praktizierenden“ Familie. Statt zahlloser Einzelorganisationen — sie alle sind importiert, nicht echt brasilianisch, und dazu sehr 'augenblicksgebunden — werden nur die ewig-gültigen grundlegenden Dauerwerte von Gotteswort (also Bibelbekenntnis) und Gottesleib (also Liturgieleben) ein Gemeindeleben aufbauen.
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