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Krise der Menschheit

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Partnerschaft mit der Dritten Welt oder Untergang der Zweiten und der Ersten: Das ist der Mahnruf, den der bekannte französische Publizist und Ex-Politiker Jean-Jacques Servan-Schreiber zum Thema „Die totale Herausforderung" erschallen läßt - in einem Buch, das dieser Tage gleichzeitig in 14 verschiedenen Verlagen und Ländern erschienen ist.

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Partnerschaft mit der Dritten Welt oder Untergang der Zweiten und der Ersten: Das ist der Mahnruf, den der bekannte französische Publizist und Ex-Politiker Jean-Jacques Servan-Schreiber zum Thema „Die totale Herausforderung" erschallen läßt - in einem Buch, das dieser Tage gleichzeitig in 14 verschiedenen Verlagen und Ländern erschienen ist.

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Die Botschaft ist gut gemeint und im Ansatz ohne Frage richtig: Die Industriestaaten müssen ihren Egoismus und ihre Raffgier einbremsen. Nicht nur die Entwicklungsländer hängen von ihnen ab, auch sie von diesen. Und in der OPEC ist „das mächtigste Instrument, das je in den Dienst der Dritten Welt gestellt wurde" erwachsen.

Hier schleichen sich ernste Zweifel ein: Will die Organisation der erdölexportierenden Ländern wirklich „die Waffe der Zukunft" für die verarmten Brüder sein? Tun die OPEC-Staaten sich nicht schwer genug in ihren eigenen Reihen mit der Solidarität?

Hier sind die Warnungen des Autors, nicht auf die Zerwürfnisse in der OPEC und Spaltungshoffnungen zu setzen, sicher ernstzunehmen. Da sich auch die reichen Erdölländer historisch, kulturell, mentalitätsmäßig im Zweifelsfall ihrer asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Zugehörigkeit besinnen und nicht dem Westen oder dem Osten verbunden fühlen, sollte man nicht bezweifeln.

Daß die Industriewelt eine vereinte Achse der ölreichen und der Käpitalar-men nicht zu fürchten hätte, wäre krasser Selbstbetrug. Deshalb leuchtet ein, daß auch Servan-Schreiber Bruno Kreisky und seiner Idee von einem „neuen Marshall-Plan" blühende Kränze flicht.

Mit Recht preist der Autor den Marshall-Plan, dank dem Nachkriegseuropa entstand, als „Wirtschaftszyklus neuer Art" und „übergeordnete Si-lidarität, die für alle von Nutzen war".

Servan-Schreibers Schlußfolgerung: „Dem Westen wird es nicht gelingen, den Weg zum Wachstum wiederzufinden. Er wird ersticken und erleben, wie seine soziale Ordnung auseinanderfällt, wenn er nicht die Geisteshaltung und den nötigen Willen aufbringt, den Ländern der Dritten Welt den Weg zur Entwicklung zu zeigen, die selbst wiederum die einzige Möglichkeit darstellt, den Westen wieder auf die Beine zu stellen."

Der eine Teil der These stimmt wohl: Nur kaufkräftige Entwicklungsländer werden uns Waren abnehmen können, die auch bei uns Arbeitsplätze und Wohlstand sichern. Die 120 praktisch bankrotten Staaten der heutigen Völkergemeinschaft fallen als ernstzunehmende Wirtschaftspartner aus. Man muß sie also zu solchen machen - so wie die USA Nachkriegseuropa zu einem ernstzunehmenden Partner gemacht haben.

Nur: In Europa fehlten 1945 Kapital, Maschinen, Fabriken, Straßen, Eisenbahnen. Aber die Menschen waren da, die mit Kapitalgeschenken etwas an-

fangen, sie in blühende Produktionsstätten verwandeln, mit dem Pfunde wuchern konnten. Gilt dies auch für die Dritte Welt?

Hier folgt Servan-Schreiber der naiven und wissenschaftlich längst widerlegten These, daß sich „das Gehirn einzig und allein und ausschließlich durch die Umgebung und Erziehung entwik-

kelt" (S. 335), Anlagen sollen also überhaupt keine Rolle spielen, Genies sind machbar.

Das ist der naive Glaube vergangener Aufklärertage, dem kaum noch jemand so innig anhängt wie Servan-Schre-ber.

Das Problem, die Volksmassen ganz Asiens und Afrikas so zu mobilisieren und zu motivieren, wie es etwa den Japanern gelungen ist, läßt sich damit nicht lösen. Auch nicht mit dem Computer, von dem Servan-Schreiber so gut wie alles Zukunftsheil erhofft:

„Die eingesetzten Mikroprozessoren verlangen nach dermaßen anderen Arbeitskräften, als wir sie bisher kennen, daß alle Menschen, seien sie aus dem Norden oder aus dem Süden, nach und nach für die gleichen Aufgaben auf die gleiche Weise ausgebildet und ausgestattet werden müssen" (S. 383).

Und: „Der Abgrund, der heute noch die Völker der Industrienationen von den analphabetischen Massen trennt, verliert seine Eigenschaft als unüberwindliches Hindernis für die Entwicklung der Dritten Welt. An der neuen Grenze, in der neuen informatisierten Welt, wird die Aneignung eines bestimmten Wissens oder die Berufsausübung nicht mehr an die Schrift gebunden sein, wenn diese natürlich als Vehikel der Abstraktion auch weiterhin bestehen bleiben wird. Daher kann man sich nun ein Bild dessen machen, was bisher unmöglich schien: einer Welt mit vergleichbaren Lebensniveaus" (Seite 401 f.).

Da werden sich einige Leute noch sehr wundern, wohin die abschätzige Beurteilung eines „Vehikels der Abstraktion" führen wird . . .

Die These, daß jeder Erdenbewohner gleich gut geeignet ist, in die Informatikrevolution der fünften Computergeneration einzutreten, wird durch die Wirklichkeit täglich aufs neue widerlegt werden.

Aber das wird kein Argument dafür sein, daß Dutzende Völker hungern, daß sinnlos ausgeplünderte Landstriche sich in Todeszonen verwandeln müssen, daß ein Jahr des Kindes ein Jahr des toten Kindes sein muß.

Wenn Sambia, viertgrößter Kupferproduzent der Erde, vor dem Bankrott steht, dann hat das nichts mit mangelnder Intelligenz und nicht mehr mit unfähiger Politik als mit der Tatsache zu

tun, daß die westlichen Konzerne das Land seit 1977 zum Kupferverkauf unter den Gestehungskosten zwingen.

Und daß man mit dem Geld, das ein einziger Panzer kostet, moderne Silos für die Lagerung von 100.000 Tonnen Reis bauen und mit einem halben Kilo Reis pro Tag einen Menschen ernähren könnte und der Preis eines Kampfflugzeuges den Kosten von 40.000 Dorfapotheken entspricht -das alles ist nicht mit der schnoddrigen Antwort zu entschuldigen: „Die Entwicklungsländer sind an ihrem Elend selber schuld."

Sie brauchen uns - wir brauchen sie. Es bleibt eine Schande, daß es uns bis heute nicht gelungen ist, diese lapidare Erkenntnis in eine praktikable Partnerschaftsformel zu übersetzen.

Die Rezepte, die der blind vernunftgläubige Franzose in seinem Buch (dessen Übertragung ins Deutsche sachlich und vor allem sprachlich nicht immer einwandfrei gelungen ist) anpreist, werden zur Bewältigung der Probleme nioht ausreichen.

Das wird dieses Unterfangen mühsamer, beschwerlicher - aber ganz gewiß eine große, gemeinsame, endlich ernstgenommene Anstrengung aller, die in den satten Leistungs- und Konsumzonen der Erde wohnen, nicht entbehrlich machen.

Schon aus schierem Eigennutz ist sie geboten. Aus Gerechtigkeit noch mehr.

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