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Krisenherde in der Stieffamilie

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Das Zusammenleben von Elternteilen mit Kindern in einer neuen Partnerschaft war einst im Zeichen kurzer Lebenserwartung alltäglich und gewinnt wieder an Bedeutung.

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Das Zusammenleben von Elternteilen mit Kindern in einer neuen Partnerschaft war einst im Zeichen kurzer Lebenserwartung alltäglich und gewinnt wieder an Bedeutung.

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Wenn heute von Familie gesprochen wird, ist nicht immer die gewachsene Lebensgemeinschaft verheirateter Eltern mit noch nicht erwachsenen Kindern gemeint. Neben der traditionellen Kernfamilie etablieren sich alternative Familienformen. Eine kennt fast jeder aus seiner Umgebung, trotzdem ist sie gewissermaßen namenlos.

Die Bezeichnung „Stieffamilie“ für das Zusammenleben eines Elternteils und seiner Kinder mit einem neuen Partner, der seiner-

seits eventuell Kinder mitbringt, wurde von der Wissenschaft kreiert und ist alles andere als populär. Damit klingt schon an, daß diese — im Zunehmen begriffene — Familienform als gesellschaftliche Realität kaum wahrgenommen wird.

Wenn nach Scheidung (oder Tod eines Elternteils) wieder Vater, Mutter und Kinder in einem Haushalt vereint sind, entsteht das Bild einer kompletten Familie. Eine solche Gemeinschaft kommt aber nicht nur unter ganz anderen Voraussetzungen als in der klassischen Kernfamilie zustande, sie ist in ihrer Struktur und Entwicklung auch völlig ander* Nach den Erfahrungen von Familientherapeuten sind sich dieser besonderen Situation oft nicht einmal die Betroffenen bewußt, noch weniger der Tatsache, daß sie sich mit dem Anspruch, möglichst als „normale“ Familie zu gelten, selbst erheblichen Druck auferlegen.

Ihre Mitglieder mußten und müssen meist auch weiterhin mit einem einschneidenden Lebensereignis fertigwerden, nämlich dem Verlust eines Partners beziehungsweise Elternteils. Dem Zerbrechen einer Kernfamilie folgt ein kürzeres, längeres oder dauerndes Leben als Teilfamilie. Sie verlangt in vielen Lebensbereichen eine Neuorientierung.

Schon aus dieser ersten Phase reichen oft Schwierigkeiten weit

in die neue Familie hinein. Der Elternteil, der nicht mehr im Familienverband lebt, ist in der Stieffamilie ständig präsent, auch * wenn er tot ist. Ähnlichkeiten der Kinder, besondere Bindungen, idealisierende Phantasien, Besuchsregelungen sind Faktoren, mit denen sich die Stieffamilie notgedrungen auseinandersetzen muß. Es ist von enormer Wichtigkeit und bedarf großer Anstrengung, die Elternfunktion aus einer gescheiterten Paarbeziehung zu retten und nicht ungelöste Probleme noch nach der Trennung über die Kinder auszutragen.

Kinder geraten leicht in Loyalitätskonflikte, der Kontakt mit dem außerhalb lebenden Elternteil kann zum Unruheherd werden. Der Stiefelternteil kann den freigewordenen Platz als Vater oder Mutter nicht einfach übernehmen. Er beginnt jedoch die Partnerschaft in der Regel gleich auch mit dieser Funktion als Elternteil. Dem Paar fehlt oft die unbeschwerte „Brautzeit“.

Stiefväter haben es, wie Untersuchungen zeigen, etwas leichter

als Stiefmütter, denn das, was sie für die neue Familie tun, wird im allgemeinen höher bewertet. Den Einsatz einer Stiefmutter erwartet man als selbstverständlich, überdies hat sie noch immer gegen landläufige Vorurteile anzukämpfen.

Stiefvater wie Stiefmutter erliegen aus dem Wunsch, sich im neuen Familienverband optimal einzusetzen und Abwehrhaltungen der Kinder abzubauen, der Gefahr des Uberengagements. Da für die Kinder meist die emotionale Basis noch nicht gegeben ist, sich auf eine neue Mutter oder einen neuen Vater wirklich einzulassen, bringt dieser Einsatz häufig eine negative Spirale in Gang und bewirkt das Gegenteil des Angestrebten.

Mit dem Zusammenschluß zweier Teilfamilien zu einer neuen Stieffamilie potenzieren sich die Schwierigkeiten. Der notwendige Aufwand an gutem Willen, Konfliktfähigkeit und Flexibilität ist in diesem Fall besonders groß. Meist herrschen ganz unterschiedliche Auffassungen darüber, wer nun „zur Familie gehört“ und wer nicht. Kinder neigen dazu, den Stie^elternteil und/ oder dessen Kinder auszugrenzen. Stiefvater oder Stiefmutter betrachten den nicht im Familienverband lebenden leiblichen Elternteil als nicht zugehörig, während er von den Kindern oft dazugezählt wird. Diese Unklarheit der Abgrenzung nach außen ist dem Klima in der Familie nicht zuträglich, sie verhindert, daß Geborgenheit und Vertrautheit entstehen.

Ebenso unklar ist oft die Rollenverteilung im System selbst. In der Phase der Teilfamilie übernehmen Kinder häufig wichtige Aufgaben zur Unterstützung des verbliebenen Elternteils. In der neuen Partnerschaft sind Widerstände die Folge, oft richtige Revierkämpfe.

Es gibt für Stieffamilien typische Strategien, diesen Schwie-

rigkeiten beizukommen. In erster Linie ist es die Tabuisierung der Andersartigkeit. Belastungen, die aus ebendieser Andersärtigkeit

entstehen, werden damit übergangen und können nicht bewältigt werden.

Uberengagement eines Stief-elternteüs und Funktionalisierung eines Familienmitglieds als „Ver-

bindungsmann“ zwischen den „Lagern“ bringen nur kurzfristige Erleichterungen, schaffen in der Folge aber neue Probleme. Die Ausgrenzung eines problematischen Familienmitgliedes als „Sündenbock“ ist in Stief f amilien besonders oft zu finden.

Dabei ist offenbar auch die Stieffamilie durchaus imstande, individuellen Lebensraum, Geborgenheit und Entfaltungsmöglichkeiten zu bieten, wenn auch unter erschwerten Bedingungen. Es bedarf großer Mühe, die Probleme zu überblicken und in den Griff zu bekommen. Wenn es gelingt, ist es eine Leistung, die Anerkennung verdient.

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