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Kritisch und eigenständig

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Teilweise durch römische Eingriffe provoziert, haben sich die unterschiedlichen Strömungen im niederländischen Katholizismus polarisiert - ein verstärkter Dialog ist unumgänglich.

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Teilweise durch römische Eingriffe provoziert, haben sich die unterschiedlichen Strömungen im niederländischen Katholizismus polarisiert - ein verstärkter Dialog ist unumgänglich.

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„Wir sind in ernster Sorge über die Entwicklung in unserer katholischen Kirche in den Niederlanden. Diese Sorge bezieht sich auf die Art und Weise der kirchlichen Amtsausübung, aber auch auf die unfruchtbare Polarisierung in unserer Kirche und — was noch schlimmer ist — auf den Auszug so vieler Menschen, denen die Kirche wichtig war oder manchmal noch immer wichtig ist." Mit die-

sen Sätzen beginnt der Aufruf an alle, die sich für die katholische Kirche in den Niederlanden verantwortlich fühlen, den die „Marienburg-Gruppe", ein Zusammenschluß katholischer Priester und Laien, im vergangenen Oktober veröffentlichte.

Der Aufruf, zu dessen Unterzeichnern Katholiken aus verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens ebenso gehören wie Pfarrer und Universitätstheologen, ist ein deutliches Indiz dafür, daß sich der holländische Katholizismus noch immer in einer schwierigen und spannungsreichen Phase befindet. Dabei sind mehrere Faktoren im Spiel: Die mühsame Suche nach neuen Formen von Seelsorge und Verkündigung in einer trotz strukturell-organisatorisch noch immer starker kirchlicher Präsenz weithin säkularisierten Gesellschaft fällt zusammen mit den Nachwirkungen

des niederländischen Sonderwegs nach dem Zweiten Vatikanum und den dadurch provozierten römischen Eingriffen.

Spektakulärster Eingriff war die Sondersynode der niederländischen Bischöfe vom Januar 1980 in Rom, mit deren Beschlüssen vor allem zum kirchlichen Amt wie auch zu anderen wichtigen Bereichen des kirchlichen Lebens, wie Liturgie, Katechese und Ökumene, Rom den zerstrittenen

holländischen Episkopat massiv in die Pflicht nahm.

Eine deutliche römische Handschrift wiesen auch die Veränderungen im niederländischen Episkopat auf, die sich seit der Synode vollzogen haben. Das gilt sowohl für die Ernennung von Bischof Simonis zum Nachfolger von Kardinal Willebrands als Erzbischof von,Utrecht und damit auch als Vorsitzendem der Bischofskonferenz wie für die zwei Monate spä-

ter erfolgten Neubesetzungen der Bistümer Haarlem und Rotterdam.

Gegenwärtig macht man sich in der niederländischen Kirche intensive Gedanken über die Zukunft der Seelsorge, nicht nur wegen des drohenden Priestermangels, sondern auch auf dem Hintergrund der zunehmenden Entfremdung vieler, vor allem Jugendlicher, von Glaube und Kirche. Zwar sind volkskirchliche Grundpfeiler noch weithin intakt: Der Anteil der Katholiken an der niederländischen Bevölkerung, der sich 1984 auf 39,3 Prozent belief, hat sich in den letzten zehn Jahren kaum verändert; fast 100 Prozent der katholischen Neugeborenen wurden 1982 getauft, von den Ehen mit mindestens einem katholischen Partner wurden immerhin 63,2 Prozent kirchlich getraut.

Allerdings ist der Gottesdienstbesuch inzwischen auf durchschnittlich 21,6 Prozent zurückgegangen (die Zahlen für die einzelnen Diözesen bewegen sich zwischen 26,9 Prozent für Utrecht und 16,7 Prozent für Rotterdam; das Bistum Roermond kam auf 23,4 Prozent. Zum Vergleich: 1970 lag die Zahl der Gottesdienstbesucher noch bei 47,2 Prozent).

Zu den ermutigenden Zeichen gehört sicher die deutlich gewachsene Bereitschaft zahlreicher Gemeindemitglieder, selber Verantwortung für die Katechese, vor allem für die Sakramentenkatechese zu übernehmen. Eine Auswertung von breitahgelegten Untersuchungen zur Tauf-, Erstkommunion- und Firmpraxis in niederländischen Pfarreien

kommt zu dem Ergebnis, daß die Gemeinde als Ort der Sakramentenkatechese vielerorts an Bedeutung gewonnen hat.

Der Blick auf die niederländische Kirche wäre unvollständig, würde er sich nur auf die (etwa 1800) Pfarreien richten, die im übrigen auf dem Weg von der versorgten zur mitverantwortlichen Gemeinde recht unterschiedlich weit vorangekommen sind. So hat in den letzten zehn Jahren die charismatische Erneuerung auch im niederländischen Katholizismus Fuß gefaßt. Gegenwärtig bestehen ungefähr 150 charismatische Gruppen, denen etwa 2000 Katholiken angehören.

Seit 1978 besteht die Basisbewegung kritischer Gruppen und Gemeinden in den Niederlanden. Diesem Zusammenschluß gehören nach Auskunft des Sekretariats der Basisbewegung in Utrecht zur Zeit etwa 60 Gruppen und Gemeinden sehr unterschiedlicher Größenordnung an.

Die wichtigste gesellschaftlichpolitische Herausforderung, der sich gegenwärtig nicht nur die Basisgemeinden, sondern die Kirchen in den Niederlanden überhaupt gegenübersehen, ist neben der sehr hohen Arbeitslosigkeit die heftige Auseinandersetzung über das Für und Wider der Stationierung von Cruise Mis-siles im Rahmen der NATO-Nachrüstung.

Im Herbst soll in den Niederlanden wieder die „Nationale Pastorale Beratung" zusammentreten. Die Bischöfe haben vorgeschlagen, dieses Mal über den Zusammenhang zwischen christlicher Glaubensüberzeugung und Zugehörigkeit zur Kirche zu sprechen. Sollte es dazu kommen, wird es an Stoff gewiß nicht fehlen. Schließlich liegen an diesem Punkt die Stärken und die Schwächen des niederländischen Katholizismus eng beeinander: auf der einen Seite das verständliche Eintreten für ortskirchliche Eigenständigkeit und möglichst umfassende Mitsprache der Gläubigen, auf der anderen Seite ein teilweise übertriebenes Mißtrauen gegenüber dem kirchlichen Amt, vor allem gegenüber römischen Institutionen. Die niederländische Kirche ist mit ihrem doppelten Erbe — hier ein hochorganisierter Diasporakatholizismus, dort der singulare nachkonziliare Aufbruch — noch längst nicht fertig.

Gekürzt aus Herder-Korrespondenz, Heft 5, 1984

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