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Kritisches und kollektives Theater

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„Das auf Bildungsgewinn und artistische Gediegenheit gerichtete, von einem beherrschenden Regisseur-Intendanten mobilisierte Theater kann schwerlich fortgeführt werden." So schrieb Ivan Nagel in der „Süddeutschen Zeitung", als die ersten Meldungen über das sich für Herbst 1970 konstituierende neue Ensemble an der Westberliner „Schaubüline am Halleschen Ufer" bekannt wurden. Seither erhoffen er und die bundesrepublikanische Theaterwelt von diesem kleinen Theater die Entdeckung der Heilmittel gegen die Krise auf der Bühne und im Zuschauerraum. Während der letzten Wochen wurde viel über dieses Theater gesprochen und geschrieben, da seine Existenz gefährdet schien: Wegen „staatsfeindlicher Umtriebe" drohte ihm eine Sperrung der staatlichen Subventionen. Doch Ist es zu dieser Maßnahme nicht gekommen.

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„Das auf Bildungsgewinn und artistische Gediegenheit gerichtete, von einem beherrschenden Regisseur-Intendanten mobilisierte Theater kann schwerlich fortgeführt werden." So schrieb Ivan Nagel in der „Süddeutschen Zeitung", als die ersten Meldungen über das sich für Herbst 1970 konstituierende neue Ensemble an der Westberliner „Schaubüline am Halleschen Ufer" bekannt wurden. Seither erhoffen er und die bundesrepublikanische Theaterwelt von diesem kleinen Theater die Entdeckung der Heilmittel gegen die Krise auf der Bühne und im Zuschauerraum. Während der letzten Wochen wurde viel über dieses Theater gesprochen und geschrieben, da seine Existenz gefährdet schien: Wegen „staatsfeindlicher Umtriebe" drohte ihm eine Sperrung der staatlichen Subventionen. Doch Ist es zu dieser Maßnahme nicht gekommen.

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Die Regisseure Peter Stein und Claus Peymann, der Dramaturg Dieter Sturm und die bisherigen Direktoren des Hauses Jürgen Schnitthelm und Klaus W eiffen- bach bilden die Theaterleitung. Sie versucht, mit den übrigen Mitgliedern, den rund 20 Schauspielern — darunter Edith Clever, Jutta Lampe und Bruno Ganz — und 60 weiteren Beschäftigten eine Art innerbetrieblicher Demokratie zu verwirklichen. Die Grundlagen dafür bilden die umfassende Information aller Mitglieder in künstlerischen und finanziellen Fragen und die monatliche Vollversammlung, die gegenüber der Theaterleitung ein Vetorecht in allen Fragen hat. Eine Art Zwischeninstanz bildet ein gewähltes Gremium aus drei Schauspielern, sowie je einem Mitglied des künstlerischen Stabes, der Verwaltung und der Technik.

Die Mitarbeit des Ensembles vollzieht sich daneben in Arbeitsausschüssen, etwa für Engagements, für Gagen, für Lehrlingsarbeit, für die Beobachtung der politischen Situation.

Vor allem soll sich die Mitsprache aber bei der eigentlichen Theaterproduktion auswirken. Fundiertes theoretisches Wissen um die zu spielenden Stücke, um ihre Problematik und ihren Stellenwert im Spieiplan helfen dem Schauspieler, sich auf der Probe mit seiner Meinung argumentativ zu entfalten. Er wird so von einem Werkzeug des allwissenden und allbestimmenden Regisseurs zu einem wirklichen Mitschöpfer der Aufführung; im extremen Fall bei einer Kollektivproduktion ohne verantwortlichen Regisseur.

Für die weitere Zukunft wird diskutiert, die Mitbestimmung auch in der Rechtsform des Theaters, das heißt in der Übernahme von Eigentumsanteilen durch die Beschäftigten, zu verankern.

Der Künstler, der seine sämtlichen Fähigkeiten zu nutzen versteht, ist die hier angestrebte Alternative zum Kunstbeamten.

Finanziell ermöglicht wurde das vorerst auf zwei Jahre befristete Unter nehmen durch eine Erhöhung der Subventionen von bisher 600.000 auf jetzt 1,8 Millionen Mark pro Jahr. Das Theater muß damit — wie die meisten anderen Theater in der BRD — rund 25 Prozent seines Gesamtetats einspielen: nicht wenig angesichts eines so großen Ensembles und der nur 400 Plätze des Hauses. Neu ist der Versuch, ein Theater auf eine definierbare ideelle Grundlage zu stellen. Auf dem Weg dahin hat sich das Theater durch Vollversammlungsbeschluß eine politische Schulung als für alle Beschäftigten verbindlich auferlegt. Sie wird zur Zeit von Wolfgang Schwiedrzik, einem Gründungsmitglied der „Schaubühne“, geleitet.

Die zu spielenden Stücke werden von sämtlichen Beschäftigten diskutiert, ehe sie endgültig durch die Vollversammlung in den Spielplan aufgenommen werden. Die Arbeitsweise soll pro Saison vier bis fünf Inszenierungen mit jeweils dreimonatiger Vorbereitungszeit ermöglichen.

In den ersten Wochen nach der Eröffnung wurde die mittlerweile berühmt gewordene, in Bremen entstandene Peter-Stein-Inszenierung des „Torquato Tasso“ gezeigt, eine Reflexion auf die Stellung des Künstlers in der Gesellschaft, hier und heute in der bürgerlichen Gesellschaft: ein plausibler Ausgangspunkt für eine Arbeit, die auf Veränderung — vor allem und zuerst dieser Künstler und ihrer Arbeit selbst — abzielt.

Die erste eigene Produktion galt Brecht/Gorkis historischem Lehrstück „Die Mutter’* (siehe auch unser Bild). Sie war ein Rückblick auf den historischen, in der Sowjetunion geschehenen Versuch der revolutionären Lösung gesellschaftlicher Konflikte, aber auch mit Bezug auf das Heute als eine Art optimistischen Mutmachens und auf das Morgen als Darstellung möglichen organisierten Widerstandes unterdrückter Klassen und Völker. Der Publikumserfolg dieser Inszenierung war überraschend: das Theater ist seit Monaten Abend für Abend restlos ausverkauft und immer auf vier Wochen im voraus ausgebucht — sicher ein Verdienst der ästhetischen Qualitäten der Aufführung. Sie ist in starkem Maße von den inszenatori- schen Fähigkeiten Peter Steins geprägt, macht aber auch die Mitarbeit des ganzen Ensembles sichtbar und hat ihren Höhepunkt in der unerhört präzisen und dabei in einem ursprünglichen Sinn komödiantischen Darstellung der Titelrolle durch Therese Giehse. Die nächsten Projekte der „Schaubühne“ sind Enzensbergers „Verhör von Havanna“ (als Kollektiv Inszenierung), Peter Handkes „Ritt über den Bodensee“ (als Uraufführung In der Regie Claus Peymanns) und Ibsens „Peer Gynt“ (Regie: Peter Stein). Man kann diese Inszenierungen schon jetzt als Teile einer „Bestandsaufnahme der spätkapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft“ verstehen. Zur Diskussion stehen ferner Aufführungen von Kleists „Prinz von Homburg“ und der „Bacchen“ des Euripides.

Zum traditionellen Publikum der „Schaubühne“ — Studenten, Schüler und liberale Intellektuelle vor allem — kam in den letzten Monaten, besonders auf dem Wege der Wahlabonnements freier Besucherorganisationen, viel „aufgeschlossenes Bürgertum“. Das Ensemble ist jedoch sehr daran interessiert, sich ein Publikum heranzuziehen, das dem Theater bisher meist fernsteht, aber entscheidend wichtig ist: Lehrlinge und Berufsschüler, im weiteren auch Arbeiter. Über den Deutschen Gewerkschaftsbund wurden bereits geschlossene Aufführungen für Lehrlinge organisiert, an deren Ende — nach Aussagen des Theaters — hochinteressante Diskussionen standen, weil sich diese Zuschauer von verschiedenen Szenen der „Mutter“ direkt angesprochen fühlten und eigene Erfahrungen zum Vergleich der Situationen heranziehen konnten.

Außerdem ist für die zweite Spielzeithälfte die Uraufführung des Stückes „Auseinandersetzung“ von Gerhard Kelling geplant, das innerbetriebliche Probleme behandelt und außerhalb des Theaters, etwa in Jugendfreizeitheimen oder Betrieben gespielt werden soll. Die im Stück angesprochenen Probleme sollen nach der Aufführung stets mit den Zuschauern in einer Diskussion aktualisiert werden.

Das Unternehmen ist bewußt als Versuch angelegt und als solcher stets für neue Entwicklungen offen. Für alle am Theater Interessierten und vor allem für die Theatermacher selber wird es interessant sein zu beobachten, welche Erfahrungen dieses Unternehmen macht und wie neuartige Theaterarbeit und experimentelle Publikumsarbeit sich gegenseitig beeinflussen werden.

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