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Kritzler unter uns

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An der Wand einer Bar im New Yorker Künstlerviertel Greenwich Village las der Autor Edward Albee zufällig den Satz „Who's afraid of Virginia Woolf?“ (Wer hat Angst vor Virginia Woolf?) Wahrscheinlich hatte ein deprimierter Gast auf der Flucht vor einem Ehestreit diesen Satz hingekritzelt. Gleichviel, die hintergründige Frage ging Albee nicht mehr aus dem Sinn und ergab schließlich den suggestiven Titel seines dramatischen Welterfolgs.

Als das städtische Gesundheitsamt in seinem Kampf gegen die Duftverunreinigung und die Häufung des Abfalls auf den Straßen unter der Devise ..Haben Sie heute New York schmutzig gemacht?“ an die Bevölkerung appellierte, versah ein leidgeprüfter Bewohner Manhattans eines der Plakate mit der bissigen Entgegnung: „New York macht mich täglich schmutzig!“

Wandkritzeleien scheinen so alt wie die Menschheit zu sein. „Graffiti“ nennt sie der Kulturhistoriker. Schon im Ägypten der Pharaonen kamen sie vor. Sie rühren wohl kaum von „Narrenhänden“ her, denn wer verstand sich damals auf Hieroglyphen, außer einer gebildeten Oberkaste? Griechen und Römer, besonders die Pompejaner, schrieben kernige Sprüche an die Mauern, z. T. in Form von Kryptogrammen, deren Entzifferung den bemühten Forschern heute noch Kopfzerbrechen bereitet.

„Ich las all die nichtssagenden gebräuchlichen Namen, die geltungssüchtige Reisende auf die Glasscheiben des Gasthoffensters graviert hatten, und einige Zeilen jener abgeschmackten Reimereien, die ich in allen Teilen der Welt gefunden habe“, rügt Amerikas klassischer Erzähler Washington Irving in einer Geschichte aus dem Merry Old England von Anno 1820.

Seit einigen Jahren wurde man in den USA auf die unkonventionelle anonyme Ausdrucksform der Wandinschriften aufmerksam. Im Zeitalter der Slogans hat sich die Zielrichtung der Graffiti verändert. Humorvoll, scharf pointiert oder gallbitter nehmen unbekannte Kritzler zu aktuellen Problemen Stellung. Blitzlichter demokratischen Denkens über Krieg und Frieden, Staat und Politik, Liebe und Religion, Individuum und Gesellschaft.

Zwei Psychologen aus Los Angeles, durchaus seriöse Professoren, waren monatelang auf der Tour durch Restaurants, Bars, Wartesäle, Schulen, Spitäler und natürlich auch Bedürfnisanstalten — seit jeher reiche Fundgruben für Bonmots sans gene. Die beiden rührigen Herren notierten, was sie an Graffiti vorfanden und berichteten über die Ergebnisse ihrer Aktion auf einer Tagung amerikanischer Psychiater.

Sie hatten die Beobachtung gemacht, daß Aussprüche obszönen Inhalts viel seltener geworden sind als früher. Wohl deshalb, weil in einer Epoche, die kaum mehr sexuelle Tabus kennt, der gedankliche Exhibitionismus seine schockierende Wirkung eingebüßt hat. Es reizt die Kritzler nicht mehr, heimlich an die Mauern zu schreiben, was man in Dutzenden überall erhältlicher Bücher lesen kann.

Viel häufiger hingegen sind zynische politische Kommentare in knappster Form. Eines Tages stand an einer Wand der Bibliothek der Harvard-Universität: „Krieg ist ein gutes Geschäft — investiert eure Söhne!“ Der Stil der Texte auf Rekrutierungsplakaten regte zu dem Satz an: „Komm zum Marinekorps und interveniere im Land deiner Wahl!“

Politisch engagierte Kritzler sind auch flink am Werk, wenn es gilt, auf rhetorische Fragen schlagfertige aggressive Antworten zu geben. Die Regierung wollte Nixon als Muster rastloser Tätigkeit preisen und plakatierte: „Der Präsident findet sogar Zeit, sich um die geistig Zurückgebliebenen zu kümmern — und was tun Sie?“ Aber ein verdrossener Bürger schrieb dazu: „Mein Möglichstes, um sie aus Washington zu vertreiben.“

Während die meisten Graffiti Ausdruck einer Protesthaltung sind, wird manchmal der Sinn einer geläufigen Parole durch einen ironischen Zusatz ins Gegenteil verkehrt und offenbart so eine tiefere Wahrheit. Paradebeispiel: die wohlbekannte antiamerikanische Losung „Ami go home“ mit der Ergänzung: „— und nimm mich mit!“

Am eifrigsten wird in den Kaffeehäusern und Bars der Großstädte gekritzelt. Soweit man die Urheber zumindest nach sozialen Gruppen feststellen kann, sind es vor allem Studenten, Hippies und junge Leute der Geschäftswelt. Aus den verschiedensten Motiven greifen sie zum Bleistift oder Kugelschreiber, um an einer Wand Graffiti zu hinterlassen.

Ist Gott nun tot?

Auch religiöse Themen werden berührt. So fand sich folgender, in drei verschiedenen Handschriften gekritzelter lapidarer Disput: zuoberst das berühmte Zitat: „Gott ist tot. Nietzsche.“ Darunter die Entgegnung: „Nietzsche ist tot. Gott.“ Und schließlich, nicht weniger apodiktisch, vermutlich von einem Mann, der an Walhall glaubt: „Beide sind tot. Odin.“ An anderer Stelle konnte man den Aphorismus eines volkstümlich denkenden Religionsphilosophen lesen: „Gott ist nicht tot. Er will nur nicht mit jedem Dreck behelligt werden.“

Wie ein Alarmsignal klingt der Satz „Wir hassen alle Menschen, ungeachtet ihrer Rasse, ihres Glaubens oder ihrer Hautfarbe!“ Zum Glück sind solche Graffiti als Ausdruck einer jegliche Gesellschaftsform völlig verneinenden Haltung selten. Aber die Beunruhigung bleibt und steigert sich angesichts der Haßparolen in Negervierteln. In roter Farbe leuchten die Worte „Brennt alles nieder!“ und „Blut!“ von verwittertem Verputz...

Politisches Medium

Wände werden aber auch zum politischen Massenmedium jener, die keine Zeitung und keinen Sender zur Verfügung haben. In Krisensituationen erreichen politische Wandinschriften eine Verbreitung, die sie einerseits als Aussage einer starken Gruppe legitimiert, anderseits sichert, daß sie wirklich von einem großen Teil der Bevölkerung zur Kenntnis genommen werden.

Die Differenziertheit vieler „kleiner“ Wandkritzeleien weicht dann der plakativen Wirkung und übertrifft die Prägnanz und Aussagekraft hochgezüchteter Werbeslogans.

Gerade in politischen Krisensituationen aber verschwimmt auch die Grenze zwischen Wandinschrift und Maueranschlag; in den USA, in Frankreich, in Nordirland wurde eine Parole fallweise sowohl mit weißer Farbe gepinselt als auch mit Schablone und Lacksprühdose aufgespritzt und — einfach, aber oft sehr dekorativ gedruckt — plakatiert. Solche Maueranschläge werden oft zum Sammelgegenstand — etwa nach dem Mai 1968 in Paris. Inschriften auf Mauern aber überleben nur auf Photos.

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