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Künstlerkarriere

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Man hatte es erwartet. Eigentlich konnte es gar nicht anders sein: Der Staatspreisträger hieß U. Er nannte sich U. und lehnte es ab, seinen Namen auszuschreiben, weil, wie er sagte, der Name nur vom Werk ablenkt. Dieses aber sollte für sich stehen und sprechen als Repräsentant einer neuen Epoche der Kunstauffassung, ja als etwas, das in seiner Radikalität und Absolutheit eigentlich zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte dem Anspruch von Kunst im reinsten Sinne zu entsprechen vermochte.

Wer war dieser U., wie war er einzuordnen, was hatte er geschaffen?

Er war Autodidakt, hatte sich in verschiedenen Stilrichtungen versucht und einige Ausstellungen gemacht, ohne sonderlich aufzufallen. Andererseits wäre auch schwer etwas zu finden gewesen, womit man auffiel, weil es noch nicht dagewesen war. Es war nämlich bereits alles dagewesen. Ja, man war an einem Punkt angelangt, an dem es unmöglich geworden war, den Kunstbetrieb zu parodieren. Denn alles, was Gegenstand einer Parodie hätte sein können, war auch als ernstgemeintes Werk denkbar.

In einer Zeit, in der das Zersägen von Klavieren, das Sitzen auf Stangen oder in leeren Räumen in Gesellschaft von toten Tieren oder das öffentliche Verrichten der Notdurft als Kunst bezeichnet, akzeptiert und subventioniert wurde, konnte man nichts mehr überspannen. Die Sehne des Bogens war längst gerissen und ließ sich lustlos von den Lüftlern der verschiedenen Strömungen treiben.

Viele ließen sich dadurch entmutigen, gaben auf oder kehrten zu bereits Gehabtem in moderaten Abwandlungen zurück, indem sie „Neue" wurden: Neue Wilde und Neue Sanfte, Neue Kubisten und Neue Dadaisten, Neue Meta-physiker oder Schildermaler.

Nicht so U. In einem heroischen Akt der Ich-Findung warf er sich ganz auf sein innerstes Selbst zurück und ignorierte alles, was ihn umgab. Er stellte alles in Frage — am meisten die, die alles in Frage stellten — und folgte einem inneren Impetus, der ihm mit zunehmender Deutlichkeit eine Entwicklungslinie vorzeichnete.

Die erste Station auf diesem Weg bezeichnete eine Ausstellung, bei der er sich weigerte, seine Bilder an die Wand zu hängen und den Beschauer dadurch zu zwingen, sie aus einem bestimmten Blickwinkel, in einer bestimmten Höhe anzusehen. Um diesem Zwang zu begegnen, ersann er eine Vorrichtung, die es mit Hilfe von elastischen Schnüren und Drehmechanismen erlaubte, die Bilder in jede gewünschte Position zu bringen.

Aber das war erst der erste Schritt. Er befriedigte ihn noch nicht. Denn darauf lief seine Vision hinaus: Die letzte Freiheit der Kunst konnte erst dann erreicht sein, wenn der Freiheit des Schaffenden eine ebenso radikale Freiheit des Betrachters gegenüberstand.

Der nächste Schritt allerdings brachte ihn diesem seinem Ziel bereits bedeutend näher. Man war auf ihn aufmerksam geworden und lud ihn nach Venedig ein. Dort stellte er seine Bilder verkehrt zur Wand hängend aus. Er war befriedigt und ermutigt, seinen Weg unbeirrt und konsequent weiter zu gehen.

Ein ekstatischer Schaffenstaumel erfaßte ihn, und er wurde mit Einladungen überschüttet. Die Sache mit den verkehrt hängenden Bildern war zwar genial und kam dem anvisierten Idealzustand schon sehr nahe, aber er mußte doch beobachten, daß Banausen versuchten, die Leinwand umzudrehen und das Bild selbst zu sehen — erbärmliche Geschöpfe, die ganz offensichtlich außerstande waren, von ihrer Freiheit Gebrauch zu machen. Deshalb machte er folgerichtig den nächsten Schritt: er stellte bei der folgenden Ausstellung die Bilder, zu einem großen Paket geschnürt, außen jeweils die Rückseiten, in die Mitte des Saales.

Kritik und Publikum waren sprachlos. Hier war man mit etwas konfrontiert, dessen Bedeutung man dunkel erahnte, aber noch nicht ganz erfaßte. Ein Odium des Unerhörten, des ganz und gar Exzeptionellen lag über dem Ganzen. Man wohnte einem Ereignis von unabsehbarer Tragweite bei. So viel war sicher. Ein Quantensprung stand bevor.

Und in der Tat. Es war so weit. Der Schritt ins Absolute, in den transzendentalen Bereich absoluter Freiheit konnte getan werden. Er mußte getan werden. U. erfüllte seine Mission. Seine nächste Ausstellung brachte die Vollendung seines Schaffens, aller Kunst, aller Freiheit der Kunst und der Kunstbetrachtung. Der letzte Zwang fiel: das Bild selbst!

U. zeigte keine Bilder mehr. Er verbarg auch keine. Es gab keine Bilder. Es gab nur, in der Mitte des großen Saales, auf dem Boden, eine Visitenkarte. Auf ihr stand: U.

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