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Kultfigur — Mythos

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Philosophen, deren Porträts auf T-Shirts zu bewundern sind, sind zweifellos Ausnahmeerscheinungen. Auch wenn dieser Ruhm zweifelhaft sein mag — eine Ausnahmeerscheinung war dieser Ludwig Wittgenstein sicher-Uch.

Der Sohn eines Großindustriellen, der auf sein Erbe verzichtete, um als Volksschullehrer in kleinen niederösterreichischen Dörfern zu leben, der Verächter der

Philosophie als Beruf, der es dennoch zum Professor an der altehrwürdigen Universität von Cambridge brachte, der Philosoph imd Sprachkritiker, der die Metaphysik zum Schweigen verurteilte, und der wie kein anderer mit ihren Problemen gerungen hat, mußte nahezu zwangsläufig zu einer Art Mythos oder Kultfigur werden.

Daß sich dabei viele Mißverständnisse in der Deutung seines in vieler Hinsicht sehr kryptischen Werkes häuften und sein Denken unter nahezu babylonischen Interpretationstürmen noch nicht erstickt ist, spricht sowohl für die Originalität und Frische seines Werkes wie auch für dessen Vielschichtigkeit und

Mehrdimensionalität.

Wittgensteins Denken läßt sich nicht so ohne Weiteres zuordnen oder katalogisieren. Bereits sein berühmt gewordener „Tractatus logico-philosophicus“, zunächst durch ein Mißverständnis ials neopositivistisches Ereignis gefeiert, stellt eine merkwürdige Symbiose logisch-mathematischen Scharfsinns und metaphy-sischer-mystischer Behauptungen dar.

Wittgensteins Versuch, in diesem Buch eine Grenze zwischen dem sinnvoll Sagbaren und dem, was eben nicht gesagt werden karm, zu ziehen, verwendet sehr wohl das Instrumentarium der logischen Sprachanalyse. Zugleich geht sein Denken aber weit über eine solche hinaus.

Wittgenstein war sein Leben lang von ethischen Fragen nahezu besessen. Er selbst hat - in einem berühmten Brief an den Herausgeber des Brenner, Ludwig von, Ficker - den Sinn seines Buches als einen ethischen bezeichnet, auch wenn - oder vielmehr gerade weil - er Fragen der .Ethik als rücht formulierbar, nicht sagbar erachtete.

Der berühmte Schlußsatz des Tractatus: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen“, gilt nicht allein für al-l0 traditionellen Gebiete der Philosophie, sondern wurde auch von Wittgenstein selbst überaus ernstgenommen: er zog sich für mehrere Jahre von jeder philosophischen Tätigkeit zurück und nahm erst wieder das Philosophieren auf, als sich seine radikale Position wandelte. Derm wenn auch seine Auffassung von Philosophie als einer sprachkritischen Tätigkeit weiterhin bestehen blieb, gab er in seinem späteren Werk die Fixierung an ein logisch-analytisches Sprachmodell auf, imi sich nunmehr der gesprochenen Sprache und ihrem Gebrauch zuzuwenden.

Die Entdeckung der Mannigfaltigkeit der Sprachspiele und die Abweisung einer monolithischen Letztbegründung wurden für Wittgenstein ebenso Kriterien seines Philosophierens, wie sie tief in die philosophischen Strömungen der Gegenwart eindrangen: von der ,4iarten“ sprachanalytisch-logischen Tradition bis hin zur Postmodeme finden sich zahlreiche Anregungen.

Daß Wittgenstein nicht schulbildend wirken koimte—und auch nicht wollte - liegt auf der Hand. Das quälend-bohrende Ringen mit philosophischen Fragen, das ihn sein Leben lang begleitete, und die Tatsache, daß er weder von seiner Ausbildung her noch in seinem Denkhabitus der akademischen Philosophie verpflichtet war, machten ihn sowohl zu einem Außenseiter wie auch zu einem Erneuerer der Philosophie.

Ethik, Logik, Mystik

Die merkwürdige Synthese von Ethik, Logik und Mystik, die sich in seinem Denken findet — zu seinen Lieblingsautoren zählte er selbst Augustinus, Leo Tolstoj und Sören Kierkegaard - und der gleichzeitige Versuch einer sauberen Trermung dieser Bereiche bildet wohl über alle Spezial- und Detailprobleme seiner Sprachkritik hinaus eine der faszinierendsten Seiten seines Werkes. Seine aphoristischen Bemerkungen zu Fragen der Ethik, der Religion, der Lebensführung enthalten oft größere Einsichten als dicke Traktate der Moral- oder Religionsphilosophie.

Daß er - schon früh - auch die Literatur faszinieren mußte, liegt auf der Hand. Von Ingeborg Bachmann, die sich bereits mit ihm beschäftigte, als er in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg noch weitgehend unbeachtet war, über die Wiener Gruppe bis zu Peter Handke, Rose Ausländer und Thomas Bernhard spannt sich ein breiter Bogen der Rezeption seiner Grundgedanken.

Als skeptischer Beobachter der Entwicklung der abendländischen Wissenschaftszivilisation, als scharfsinniger Logiker und Sprachdenker und als nach dem Siim des Lebens Forschender hat Wittgenstein der Philosophie nicht nur neue Rätsel aufgegeben, er hat auch manche einer Lösung nähergebracht. Sein Philosophieren hat das Denken der Gegenwart vor neue Herausforderungen gestellt.

Der Autor ist Professor für Philosophie an der Universität Wien.

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