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Kunsthistorisches Großaufgebot

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Das bedeutendste kulturelle Ereignis des Jahres 1977 in Deutschland, so bejubelten einstimmig die deutschen Medien die 15. Kunstausstellung des Europarates in Berlin. Thema: Die Tendenzen der zwanziger Jahre. Die Verantwortlichen haben einen interessanten Aspekt gewählt - sowohl aus geschichtlicher wie aus kunsthistorischer Sicht.

Gerade in den zwanziger Jahren - nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und später, zur Zeit der Weltwirtschaftskrisen - wurde das Selbstverständnis der Kunst radikal erschüttert und zerstört. Nach den politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen mußte auch die Kunst neue Wege gehen, den Kunstbegriff des bürgerlichen 19. Jahrhunderts in Frage stellen und die Funktionen der Kunst neu überdenken. Der monolithische Stilbegriff wurde aufgelöst; es entwickelten sich neue Tendenzen, von unterschiedlichen Ausgangspositionen ausgehend. Alle hatten sie das gemeinsame Ziel, die Kunst zu revolutionieren. „Die Werte des Wirklichen müs-

sen einer grundlegenden Prüfung unterzogen werden“, formulierte es der Surrealist Andrė Breton.

Mit Vehemenz hatte ein Gärungsprozeß begonnen. Diesen Prozeß in seinen Grundthemen und verschiedenen Facetten zu dokumentieren, hat sich die 15. Europaausstellung zur Aufgabe gestellt. In der Neuen Nationalgalerie - erbaut von dem Holländer Mies van der Rohe - werden die Anfänge und frühen Entwicklungstendenzen der neuen Kunst gezeigt. Ausgelöst durch die umstürzenden Ereignisse der russischen Oktoberrevolution wurde die Forderung nach einer sozial engagierten, utopischen Kunst erhoben. Eine sachliche, funktionelle Kunst, wie sie vor allem von Male- witsch und Mondrian propagiert wurde. Kunst sollte depersonalisiert werden, da das Individuum als Produkt einer spätbürgerlichen Ideologie nur noch Schein und leere Hülle sei. Weit über tausend Exponate - darunter ■Werke von Kandinski, Mondrian, Ma- lewitsch und anderen Russen - sollen diese Entwicklung dokumentieren. Die Ausstellung gliedert sich in drei Abteilungen, den „Voraussetzungen des Konstruktivismus“ (1910-1916), dem „Verhältnis von künstlerischer Utopie und Wirklichkeit“ (1917-1923)

und den „Praktischen Verwirklichungen neuer Ideen“ (1923-1930) gewidmet? In der letzten Abteilung sind Raumobjekte, funktionelle Möbelstücke, Gebrauchsgegenstände als Realisationen einer funktionalen Kunst zu sehen.

In der Orangerie des Schlosses Charlottenburg werden andere Ausdrucksformen der Kunst der zwanziger Jahre vorgestellt. Man hat hier die Neue Sachlichkeit dem Surrealismus gegenübergestellt, um gemeinsame Tendenzen und Ursprünge beider Kunstrichtungen zu vermitteln. Ein scheinbar paradoxes Ansinnen. Doch in der hervorragend zusammengestellten Schau werden Parallelen sichtbar. Die gemeinsame Thematik, die Stilisierung, die Absage an einen statischen Wirklichkeitsbegriff. Etwa 200 Gemälde von Picasso, Max Ernst, Magritte, Otto Dix und vielen anderen verhelfen zu einer neuen Sicht der beiden Stilrichtungen, zwingen zum Überdenken von eingefahrenen, formalisierten stilistischen Normen.

In der Akademie der Bildenden Künste steht der Dadaismus im Zentrum der Ausstellung. Dadaismus- die Kunst, die keine Kunst sein wollte, sich als Provokation gegen kulturelle und gesellschaftliche Normen verstand, als Protest gegen jedes System, gegen vorgegebene Ordnungen. Dem Dadaismus, der um 1916 in Zürich entwickelt wurde, jedoch bald an Bedeutung und Interesse verlor, widerfährt hier neue Rechtfertigung. Seine Einflüsse auf die Surrealisten werden aufgedeckt, das scheinbar Spielerische, Unfunktionelle wird als Protest, als Alternative dargestellt. Es ist erwähnenswert, daß nicht nur „Dadaklassiker“ vorgestellt werden, sondern auch Arbeiten von unbekannten Dadaisten aus Rußland, Italien und Spanien.

Die Europaratsausstellung ist mehr als zusammengetragenes Kulturgut aus Museen und Privatgalerien. Man will den Besucher informieren, erziehen, ihn auf Zusammenhänge aufmerksam machen, neue Rezeptionsmöglichkeiten von Kunst aufzeigen. Dieses Vorhaben ist voll gelungen, was nicht zuletzt die euphorischen Kritiken und der gigantische Zuschauerstrom manifestierten.

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