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Kurdenfrage ist kein Rüchtlingsproblem

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FURCHE: Ist es im Interesse der Kurden, daß Österreich ein Kontingent von Flüchtlingen aufnimmt?

SADI PIRE: Das Kurdenproblem ist kein Flüchtlingsproblem, es ist Folge politischer Probleme. Wenn die Staatengemeinschaft das Flüchtlingsproblem lösen will, dann soll sie sich an die politischen Probleme heranmachen, die irakische Regierung unter Druck setzen, um der Kurdenunterdrückung ein Ende zu bereiten und auf die Forderung der Kurden nach demokratischen Rechten zu antworten. Schweigen über Saddam Hussein ist eine eklatante Menschenrechtsverletzung.

FURCHE: Wie sehen Sie die Rolle der USA, die bestreiten, die Kurden zum Aufstand ermuntert zu haben?

SADI: Die USA haben die Prüfung nicht bestanden, was Menschenrechtserhaltung und neue Demokratisierungspolitik betrifft. Sie können aus ihrer alten Rolle nicht heraus, nämlich der Machtpolitik und der Profitgier. Im Westen, in den industrialisierten Ländern, gibt es Kreise, die einen militärisch und moralisch angeschlagenen Saddam Hussein einer moralisch potenten Opposition vorziehen, damit sie ihre Geschäfte fortsetzen können. Denn einem Schwachen kann man mehr Bedingungen diktieren.

Amerika hat mehrfach die gesamte irakische Bevölkerung und die Armee aufgerufen, sich zu erheben und das Saddam-Regime zu stürzen. Sie haben noch dazu den Sender „Stimme Freier Irak" eingerichtet und an die Bevölkerung rund um die Uhr appelliert. So ist es zum Aufstand gekommen. Den

politischen Organisationen des irakischen Widerstands ist nichts anderes übrig geblieben, als die Aufständischen zu organisieren und zu lenken.

FURCHE: Hat sich die irakische Opposition geeinigt? Wie stellt sie sich die Zukunft des Irak vor?

SADI: Die kurdische und die irakische Opposition haben beim Kongreß vom 10. bis 13. März in Beirut viele Mißverständnisse ausgeräumt. Ursprünglich wollten wir das in Österreich machen, in einem Land, das bei keiner Kriegspartei mitmachte. Aber der bürokratische Weg in Österreich dauert zu lang.

Die gesamte Opposition von ul-trarechts bis ultralinks war beteiligt, um den Eindruck einer Zer-strittenheit auszuräumen. Es wird uns immer vorgeworfen, daß es nach Saddam Hussein zu einer „Libano-nisierung" des Irak kommen könnte. Das entbehrt jeder Grundlage.

Die irakische Opposition hat sich auf eine Plattform geeinigt. DieEin-heit Iraks soll bewahrt bleiben; vor allem die Kurden pochen darauf. Nach Hussein geht es um folgendes:

• Wiederaufbau des Landes, eine Volkszählung, Vorbereitung demokratischer Wahlen und Ausarbeitung einer Verfassung, die durch ein Referendum beschlossen werden soll. Der zukünftige Irak soll pluralistisch, demokratisch, mit verstärkter Presse- und Meinungsfreiheit, Streik- und Demonstrationsfreiheit sein und auch, im Gegensatz zu einigen arabischen Ländern, die Rechte der Frauen garantieren.

• Neudefinition der Außenpolitik, Herstellung einer Beziehung zu

allen Staaten der Welt auf Gegenseitigkeit.

• Ein Wirtschaftsplan, der nicht auf Aufrüstung und Zerstörung hin geht, sondern Aufbau und Erhöhung des Lebensstandards der Bevölkerung zum Inhalt hat. Eine neue Erdölpolitik soll die Preise im Westen mit den Bedürfnissen des Landes in Einklang bringen.

FURCHE: Das Pech der Kurden ist, daß sie in einem Gebiet mit viel Erdöl leben und viele Gruppen darauf Zugriff haben wollen.

SADI: Genau. Die Kurdenfrage kann gelöst werden, indem man den Kurden im einheitlichen Irak das Selbstbestimmungsrecht überläßt, von verstärkter Autonomie über Föderation zur Konföderation. Das Ergebnis hängt von den Verhandlungen ab. Diese autonome Region hätte mit der Zentralregierung drei Sachbereiche gemeinsam:

1. Schwerindustrie und Erdöl. Sache der Zentralregierung wäre es, die Preise und die Erdölpolitik zu bestimmen. 2. Zentrale Wirtschaftsplanung. 3. Außenpolitik.

Hier wären die Kurden als ein Drittel der Bevölkerung Iraks zu beteiligen. Alles andere, was die regionale Entwicklung angeht, die Legislative und Exekutive, sollte der Region überlassen werden.

Die anderen Staaten sind gut beraten, ähnliche Schritte zu setzen. Man kann nicht die Einheit eines Staates garantieren, wenn man Minderheiten unterdrückt.

FURCHE: Gibt es auch Vorstellungen bezüglich eines Gesamtkurdistans, das heute auf fünf Länder aufgeteilt ist?

SADI: Gesamtkurdistan ist nicht aufgeteilt worden, weil es die Araber, Iraner oder Türken so wollten. Die Siegermächte des ersten Weltkriegs haben es bereits 1916 mit dem Geheimabkommen von Syy-kes-Picot aufgeteilt. Ich halte es nun für angebracht und zeitgemäß, daß sich England und Frankreich ganz offiziell entschuldigen. Im Rahmen einer Nahost-Konferenz mit Schwerpunkt Palästinenser Problem, sollten auch das Kurdenproblem und andere Probleme der Region berührt werden.

Das zweite ist, daß man von der Großmachtpolitik, die im Kalten Krieg gemacht worden ist, wegkommt. Die Demokratisierung, die in Osteuropa angefangen hat, darf nicht an der Küste der Türkei enden, da ansonsten die Zusammenarbeit zwischen Nord und Süd nicht Zustandekommen kann.

Die Dritte Welt wird heute gänzlich ignoriert. Man überläßt das Feld Kreaturen wie Saddam Hussein, die nicht zulassen, daß die Menschen auf der Straße die Diskussion über ihre Zukunft führen. Da bleibt nichts anderes übrig, als daß die Menschen in die Moscheen gehen und dort ihre Anliegen zur Sprache bringen. Die Formulierung, die man da in letzter Zeit sehr häufig hört, ist, daß die christliche Welt, also Osten und Westen, sich geeinigt hat, um uns wieder zu berauben, zu ko-lonialisieren. Auf diese Weise versucht man, die islamischen Tendenzen zu verstärken. Das ist nur durch die Ignoranz und den Zynismus der Westeuropäer entstanden.

SADI PIRE ist Österreich-Vertreter der irakischen Kurdistan-Front. Mit ihm sprach MARTIN MAIR.

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