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Lachen über den Abgrund

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Auf einer Bühne in einem Renaissance-Schloß in Kärnten erreicht der österreichische Theatersommer seinen geistigen Höhepunkt. Ist das Beispiel Herbert Wochinz nachvollziehbar?

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Auf einer Bühne in einem Renaissance-Schloß in Kärnten erreicht der österreichische Theatersommer seinen geistigen Höhepunkt. Ist das Beispiel Herbert Wochinz nachvollziehbar?

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Jahrestage zwingen zum Rückblick. In diesem Zwang liegt ihre Bedeutung. Sie heben den beobachtenden Geist für einen Augenblick über die dahinströmende Zeit hinaus, lösen ihn aus den Verstrickungen des Alltags, versetzen ihn in die Lage, im fließenden Chaos der Wirklichkeit die feste Struktur der Wahrheit zu erfassen. Eindrücke einiger flüchtiger Stunden ordnen sich zu Teilen eines größeren Ganzen; die Punkte, aneinandergefügt, ergeben Linien, zeigen Tendenzen, lassen Zusammenhänge erahnen. Sie machen die Zukunft berechenbarer. Nur der Rückblickende ist in der Lage, Fortschritt zu bewirken.

Deshalb erscheint es ratsam, nach fünfundzwanzig Jahren über die Komödienspieler auf Schloß Porcia in Spittal an der Drau.

Ihr Stil ist frisch und formvollendet wie am ersten Tag; ihre jugendliche Kraft wirkt ungebrochen; ihre Dynamik, ihr Charme und ihr Mutterwitz - den man der französischen Ausrichtung der Kompanie entsprechend eher „esprit” nennen sollte — strahlen allabendlich. „Das leichte Lachen von Porcia”, diese Formel eines Theaterkritikers, ist zur Legende geworden. Zurecht. Sobald die Komödienspieler auftreten, scheint die Gravitationskraft außer Kraft gesetzt; etwas Schwebendes, Lustvolles, wie Geträum-tes hebt an; die berauschende Faszination des Theaters zeigt ihre Wirkung.

Warum?

Weil Herbert Wochinz erfüllt ist von der subtüen Freude an jenem intellektuellen Spiel, das in der griechischen Antike wurzelt, durch die Latinität Verbreitung fand, und im Werk einiger Komödiendichter eine eindringliche Ausformung erlangte. Diese leuchtende Komik fußt auf der Einsicht, daß wir alle nicht nur Individuen, sondern auch Verkörperungen eines Typs sind, Marionetten unseres Schicksals, Helden und Opfer zugleich.

Wir sind durch andere Verkörperungen des Typus ersetzbar: die Erkenntnis macht betroffen. Dieser persönlichen Tragik entspringt, sobald sie als etwas Allgemeines und Allumfassendes begriffen werden kann, die Komödie. Die Marionette, die sich einbildet, nach Lust und Laune des Augenblicks zu handeln, wirkt grotesk.

Die Lebenssicht des alten mediterranen Kulturraumes ist in diesem Sinne kenntnisreich und zum Lachen bereit. Wir folgen Fügungen, die wir nicht kennen, wir verkörpern je nach Veranlagung den Satyr oder den Heros, die Nymphe oder die Mutter Erde, wir improvisieren von Minute zur Minute und bewegen uns doch nur auf dem einen Kraftfeld, das von den drei Mächten Tod, Liebe und Macht bestimmt wird. Ist das nicht lustig? Weinen wird in Lächeln umgestülpt. Das Entsetzen zeitigt befreiendes Gelächter.

Das alles könnte auch sehr gewichtig dargestellt werden, mit der ganzen Schwere des moralisierenden Theaters, gleichsam mit erhobenem Zeigefinger, missionarisch. Herbert Wochinz gehört zu den freien und schöpferischen Geistern, es steht ihm fern, jemandem im Stil der Marktschreier und der Agitatoren überzeugen und überrumpeln zu wollen. Seine Gesellschaftskritik und seine Menschenkritik bedürfen nicht der Plumpheit der Parolen. Hier ist tiefere Ironie am Werk.

Sie schafft Theater ohne Plüsch. Sie zielt unumwunden auf die Substanz, dringt mit erotischer Lust am Abenteuer in die Tiefe, befreit den Kern vom Beiwerk, verhilft dem Bild des Lebens zur schwebenden Unsterblichkeit einer Vision. In dieser wechseln schwerelos die Szenen, jähe Verwandlungen sind selbstverständlich, das Geschehen hat sein eigenes, gewichtloses rasantes Tempo. Stücke, die auf anderen Bühnen genüßlich ausgespielt oder feierlich zelebriert werden, gehen auf Schloß Porcia flink, gleichsam schwerelos über die Bretter. Der Eindruck, den sie hinterlassen, ist dennoch tief. Erst in der Erinnerung offenbaren sie ihre wahre Bedeutung.

Das Geheimnis liegt, zum Teil, in der Genauigkeit. In dieser Hinsicht sind die Aufführungen im Renaissancehof perfekt — und entsprechen also dem genius loci. Schludernde Mimen wären kraft der beglückenden Architektur längst des Schlosses verwiesen worden.

Die Freude an der Geometrie entspricht dem Lebensideal der Renaissance, das alles Meßbare messen und alles nicht Meßbare meßbar machen wollte, und korrespondiert zugleich mit dem Geist der Komödie, deren Komposition einer eigenen folgerichtigen Logik entsprechen muß. Selbst die launigen Novellen Boccaccios sind, was ihre Struktur betrifft, kleine mechanische Apparate. Der Anblick ihrer Perfektion bereitet uns heute noch Vergnügen. Ähnlich verhält es sich mit Moliere und mit vielen anderen Poeten, die von Wochinz verehrt, bevorzugt und kongenial verdolmetscht werden.

Die flinke Spielführung, die lateinische Klarheit der Modulation, dieses Schlanke und Muskulöse der Darstellung, diese kompromißlose Zurschaustellung des Grundsätzlichen: das alles zeugt von einer intellektuellen Freude an der Harmonie. In dieser waltet das Gesetz.

Die klare Komposition dient allerdings bloß als fester Boden für das freudige, sich aus dem Augenblick entwickelnde Spiel. Die Aufführungen auf Schloß Porcia haben die Spontaneität der Improvisation. Die Akteure betreten die Bühne, und wir haben das Gefühl: Es ist ihnen gerade jetzt eingefallen, sich als Figuren einer Komödie zu verkleiden. Sie kommen aus der Urzeit der commedia dell'arte, ziehen an uns vorbei und gehen in unsere Träume ein. Wir stürzen ins vergnügliche Abenteuer, folgen all den Verwicklungen und sehen uns auf einmal mit dem eigenen Schicksal konfrontiert. Deshalb entspringt dem Lachen tiefere Einsicht. Wir verlassen den Zuschauerraum gestärkt.

Dieser auf Tempo und Genauigkeit zielende Stil des Prinzipals scheint die Begabung seiner Schauspieler nachhaltig zu prägen. Wenn ich da und dort auf einer deutschsprachigen Bühne einem Darsteller begegnet bin, der offenbar gelernt hatte, sehr klar zu artikulieren, seine Bühnenfigur mit scharfer Kontur zu versehen, genau und dennoch spielerisch zu wirken, dachte ich oft: Der (oder die) hat einmal bei Herbert Wochinz gespielt. Der Lebenslauf, im Programmheft abgedruckt, lieferte die Bestätigung.

Damit sind die Ursachen dieses Theaterzaubers nur berührt, nicht zur Gänze aufgedeckt. Ein Rest bleibt unfaßbar für die Vernunft. Und gerade hier, im geheimen, liegt die Erklärung dafür, daß der Geist der Komödienspieler nach fünfundzwanzig Jahren so jung ist wie am ersten Tag.

Herbert Wochinz führt uns vor Augen, was Kunst bewirken kann. In diesem Fall gelingt es ihr, die guten Geister zu beschwören. In ihrer Obhut befinden wir uns, sobald wir den Zuschauerraum betreten haben. Sie entziehen sich der Zeit, denn sie werden mit jedem Menschen neu geboren. Indem wir uns den Komödienspielern anvertrauen, öffnen wir uns für das endlose Spiel der Phantasie.

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