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Ländliche Genossenschaften: Die grünen Dauerbrenner
Mehr als hundert Jahre ist es her, daß der Schwarzwälder Friedrich Wilhelm Raiffeisen zum Widerstand gegen die Auswüchse des Kapitalismus auf dem freien Land aufgerufen hat. Raiffeisen legte den Grundstein für eine heute weltumspannende Organisation, die auf der Idee der Selbsthilfe, der^ Selbstverwaltung und der Selbstverantwortung aufgebaut ist. Der in düsteren Tagen geprägte Slogan von der „Hilfe durch Selbsthilfe" hat bis heute nichts an Zugkraft eingebüßt.
Zu Beginn der achtziger Jahre können die geistigen Nachfahren des Sozialreformers aus dem Schwarzwald hierzulande bilanzieren: Jeder zweite Österreicher weiß seine Spargroschen in einer Raiffeisenbank am besten aufgehoben. Zwei Drittel der Getreideernte wird von den Landwirten in die Silos der genossenschaftlichen Lagerhäuser gekarrt. Genossenschaftliche Molkereien und Käsereien übernehmen 90 Prozent der angelieferten Milch. Genossenschaftliches Engagement in insgesamt 50 Wirtschaftssparten, Raiffeisen-Erfolgsbilanz der Gegenwart, Raiffeisen als Ordnungsinstrument der sozialen Marktwirtschaft.
Das Maß aller Dinge muß für jede Genossenschaft nach dem System
Raiffeisen der Grundauftrag der Förderung von Erwerb oder Wirtschaft ihrer Mitglieder sein. Es wäre aber zuwenig, die ländlichen Genossenschaften ausschließlich am Ökonomischen Erfolg zu messen. Der Sozialdemokrat Renner hat in einer Zeit, in der die junge Republik daran ging, sich vom Staub und Schutt tausendjähriger Zwangsbeglückung zu befreien, die ideellen Ziele genossenschaftlichen -Handelns und Wollens treffend formuliert: Die Genossenschaften besitzen, bewußt oder unbewußt, das Geheimnis zum Neubau der Gesellschaft, das Zaubermittel, das Privatinitiative und Privatinteresse durch freien Entschluß zusammenfaßt zur disziplinierten Gemeinschaftsarbeit, das Demokratie und wirksamste Ordnung zugleich verwirklicht. Renner attestiert mit diesen knappen Worten den Genossenschaften Wesenselemente, die die Grundlage der freien sozialen Marktwirtschaft und in logischer Folge der freiheitlichen Gesellschaftsordnung ausmachen. Er redete sicher nicht irgendwelchen Sozial-Utopien das Wort, sondern meint den mittelständischen Menschen und seinen Anspruch auf Selbstverwirklichung. Diesen Anspruch auf Selbstverwirklichung hat das ländliche Genossen
schaftswesen auch heute noch auf seine Fahnen geheftet.
Zu Zeiten der Genossenschaftsgründer drohte zahllosen Menschen vor allem im ländlichen Raum die wirtschaftliche Verelendung. Heute sieht sich das einzelne Individium von anderen Faktoren bedroht: Konzentrationstendenzen in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Allmacht des Staates, Monopole und perfekte Wirtschaftsmechanismen, Tendenz zur Zwangsbeglückung und zum Kollektiv.
Dem gegenüber stehen Grundrecht und Anspruch der Menschen auf Privatbesitz, Individualismus, Selbstentfaltung und Freiheit. Zur Verwirklichung dieser Maxime leisten die Raiffeisengenossenschaften einen wesentlichen Beitrag. Einst vorwiegend bäuerliche Selbsthilfeorganisationen, haben sie längst ihren Wirkungskreis auf die gesamte Bevölkerung abgestellt und sind Bindeglied und Mittler zwischen Stadt und Land geworden. Eine Entwicklung, die übrigens Raiffeisen selbst in seinem Buch „Darlehenskassen-Vereine“ in seine Überlegungen miteinbezogen hat.
Anläßlich der Genossenschaftsveranstaltung innerhalb des europäischen Forums Alpbach 1980 hat
der Generalsekretär des österreichischen Raiffeisenverbandes, Dr. Kleiß, einige genossenschaftspolitische Thesen entwickelt, die die gegenwärtige ökonomische und ideelle Marschrichtung der Genossenschaften nach dem System Raiffeisen markieren:
Der Selbsthilfegedanke erlebt durch die zunehmenden Eingriffe von staatlichen und halbstaatlichen Institutionen in die privaten und wirtschaftlichen Belange des einzelnen eine Renaissance.
Innerhalb des Raiffeisenver- bundes sind 2900 autonome, nach demokratischen Spielregeln geführte Einheiten Beispiel für praktizierte Wirtschaftsdemokratie.
Geschäftspolitisches Ziel ist nicht die Gewinnmaximierung, sondern die Vertretung der Interessen eines jeden einzelnen Mitgliedes.
Föderalismus ist gefragt. Jede Raiffeisengenossenschaft ist ein selbständiges Gebilde, das seine Kraft durch Zusammenschluß in regionalen und überregionalen Verbänden vervielfacht.
Die Mitglieder sind zugleich Eigentümer und Kunden der Genossenschaft.
Die Mitgliedschaft beruht auf Freiwilligkeit.
Von den Mitgliedern gewählte
Funktionäre vertreten ehrenamtlich die Eigentümerinteressen.
Das Ausufern staatlicher Macht läßt für viele die Raiffeisenor- ganisation als Teil der Privatwirtschaft attraktiv erscheinen.
Parteipolitische Neutralität ist ein genossenschaftliches Postulat.
Keine andere Unternehmensform verfügt über ein derart starkes Kontrollinstrumentarium wie die Raiffeisengenossenschaften.
Raiffeisengenossenschaften bieten ein Höchstmaß an wirtschaftlicher Sicherheit.
Die Raiffeisengruppe huldigt keinen Wachstumsfetischismus. Expansion gibt es nur dort, wo sie überschau- und kontrollierbar ist.
Raiffeisen ist eine rein österreichische Wirtschaftsorganisation.
Die Raiffeisengenossenschaften sind in den letzten Jahrzehnten und Jahren überdurchschnittlich gewachsen. Die Entwicklung von Mitgliederzahlen und Umsätzen läßt darauf schließen, daß dieser Trend ungebrochen ist. Bel Beibehalt der genossenschaftspolitischen Linie ist aber auch der Schluß zulässig, daß das Raiffeisen-Genossenschaftswesen auch in Zukunft seine stabilisierende Funktion innerhalb der Marktwirtschaft beibehält und Bastion des Mittelstandes bleibt.
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