6910551-1981_07_12.jpg
Digital In Arbeit

Ländliche Genossenschaften: Die grünen Dauerbrenner

Werbung
Werbung
Werbung

Mehr als hundert Jahre ist es her, daß der Schwarzwälder Friedrich Wilhelm Raiffeisen zum Widerstand gegen die Auswüchse des Kapitalis­mus auf dem freien Land aufgerufen hat. Raiffeisen legte den Grundstein für eine heute weltumspannende Organisation, die auf der Idee der Selbsthilfe, der^ Selbstverwaltung und der Selbstverantwortung aufge­baut ist. Der in düsteren Tagen ge­prägte Slogan von der „Hilfe durch Selbsthilfe" hat bis heute nichts an Zugkraft eingebüßt.

Zu Beginn der achtziger Jahre können die geistigen Nachfahren des Sozialreformers aus dem Schwarzwald hierzulande bilanzie­ren: Jeder zweite Österreicher weiß seine Spargroschen in einer Raiffei­senbank am besten aufgehoben. Zwei Drittel der Getreideernte wird von den Landwirten in die Silos der genossenschaftlichen Lagerhäuser gekarrt. Genossenschaftliche Mol­kereien und Käsereien übernehmen 90 Prozent der angelieferten Milch. Genossenschaftliches Engagement in insgesamt 50 Wirtschaftssparten, Raiffeisen-Erfolgsbilanz der Gegen­wart, Raiffeisen als Ordnungsinstru­ment der sozialen Marktwirtschaft.

Das Maß aller Dinge muß für jede Genossenschaft nach dem System

Raiffeisen der Grundauftrag der Förderung von Erwerb oder Wirt­schaft ihrer Mitglieder sein. Es wäre aber zuwenig, die ländlichen Ge­nossenschaften ausschließlich am Ökonomischen Erfolg zu messen. Der Sozialdemokrat Renner hat in einer Zeit, in der die junge Republik daran ging, sich vom Staub und Schutt tausendjähriger Zwangsbe­glückung zu befreien, die ideellen Ziele genossenschaftlichen -Han­delns und Wollens treffend formu­liert: Die Genossenschaften besit­zen, bewußt oder unbewußt, das Geheimnis zum Neubau der Gesell­schaft, das Zaubermittel, das Privat­initiative und Privatinteresse durch freien Entschluß zusammenfaßt zur disziplinierten Gemeinschaftsar­beit, das Demokratie und wirksam­ste Ordnung zugleich verwirklicht. Renner attestiert mit diesen knap­pen Worten den Genossenschaften Wesenselemente, die die Grund­lage der freien sozialen Marktwirt­schaft und in logischer Folge der freiheitlichen Gesellschaftsordnung ausmachen. Er redete sicher nicht irgendwelchen Sozial-Utopien das Wort, sondern meint den mittelstän­dischen Menschen und seinen An­spruch auf Selbstverwirklichung. Diesen Anspruch auf Selbstverwirk­lichung hat das ländliche Genossen­

schaftswesen auch heute noch auf seine Fahnen geheftet.

Zu Zeiten der Genossenschafts­gründer drohte zahllosen Menschen vor allem im ländlichen Raum die wirtschaftliche Verelendung. Heute sieht sich das einzelne Individium von anderen Faktoren bedroht: Konzentrationstendenzen in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. All­macht des Staates, Monopole und perfekte Wirtschaftsmechanismen, Tendenz zur Zwangsbeglückung und zum Kollektiv.

Dem gegenüber stehen Grund­recht und Anspruch der Menschen auf Privatbesitz, Individualismus, Selbstentfaltung und Freiheit. Zur Verwirklichung dieser Maxime lei­sten die Raiffeisengenossenschaf­ten einen wesentlichen Beitrag. Einst vorwiegend bäuerliche Selbst­hilfeorganisationen, haben sie längst ihren Wirkungskreis auf die gesamte Bevölkerung abgestellt und sind Bindeglied und Mittler zwi­schen Stadt und Land geworden. Eine Entwicklung, die übrigens Raiffeisen selbst in seinem Buch „Darlehenskassen-Vereine“ in seine Überlegungen miteinbezogen hat.

Anläßlich der Genossenschafts­veranstaltung innerhalb des euro­päischen Forums Alpbach 1980 hat

der Generalsekretär des österrei­chischen Raiffeisenverbandes, Dr. Kleiß, einige genossenschaftspoliti­sche Thesen entwickelt, die die ge­genwärtige ökonomische und ideelle Marschrichtung der Genos­senschaften nach dem System Raiffeisen markieren:

Der Selbsthilfegedanke erlebt durch die zunehmenden Eingriffe von staatlichen und halbstaatlichen Institutionen in die privaten und wirt­schaftlichen Belange des einzelnen eine Renaissance.

Innerhalb des Raiffeisenver- bundes sind 2900 autonome, nach demokratischen Spielregeln ge­führte Einheiten Beispiel für prakti­zierte Wirtschaftsdemokratie.

Geschäftspolitisches Ziel ist nicht die Gewinnmaximierung, son­dern die Vertretung der Interessen eines jeden einzelnen Mitgliedes.

Föderalismus ist gefragt. Jede Raiffeisengenossenschaft ist ein selbständiges Gebilde, das seine Kraft durch Zusammenschluß in re­gionalen und überregionalen Ver­bänden vervielfacht.

Die Mitglieder sind zugleich Ei­gentümer und Kunden der Genos­senschaft.

Die Mitgliedschaft beruht auf Freiwilligkeit.

Von den Mitgliedern gewählte

Funktionäre vertreten ehrenamtlich die Eigentümerinteressen.

Das Ausufern staatlicher Macht läßt für viele die Raiffeisenor- ganisation als Teil der Privatwirt­schaft attraktiv erscheinen.

Parteipolitische Neutralität ist ein genossenschaftliches Postulat.

Keine andere Unternehmens­form verfügt über ein derart starkes Kontrollinstrumentarium wie die Raiffeisengenossenschaften.

Raiffeisengenossenschaften bieten ein Höchstmaß an wirtschaft­licher Sicherheit.

Die Raiffeisengruppe huldigt keinen Wachstumsfetischismus. Expansion gibt es nur dort, wo sie überschau- und kontrollierbar ist.

Raiffeisen ist eine rein österrei­chische Wirtschaftsorganisation.

Die Raiffeisengenossenschaften sind in den letzten Jahrzehnten und Jahren überdurchschnittlich ge­wachsen. Die Entwicklung von Mit­gliederzahlen und Umsätzen läßt darauf schließen, daß dieser Trend ungebrochen ist. Bel Beibehalt der genossenschaftspolitischen Linie ist aber auch der Schluß zulässig, daß das Raiffeisen-Genossenschaftswe­sen auch in Zukunft seine stabilisie­rende Funktion innerhalb der Marktwirtschaft beibehält und Ba­stion des Mittelstandes bleibt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung