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„Lästige Störenfriede“

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FURCHE: Was führte in den letzten Jahren zum steten Anstieg der Einwanderung aus der Sowjetunion?

PELED: In der Sowjetunion gibt es eine verhältnismäßig große Minderheit von drei Millionen Juden, denen im Gegensatz zu den anderen dort lebenden nationalen Minderheiten keine nationalen Rechte gewährt werden. Gerade die Jugend, die bereits nach der Oktoberrevolution geboren und rein kommunistisch erzogen wurde, ist nun besonders aküiv in ihrer Forderung nach Auswanderung.

Der Druck des Judentums außerhalb der Sowjetunion auf die russische Regierung zwecks Ausreiseerlaubnis für die Juden kam als weiterer Faktor der Auswanderungsbereitschaft hinzu. Um ein Beispiel zu nennen: In Charkow hatten sich fünfzehn Familien zur Auswanderung registrieren lassen. Sie bekamen große Schwierigkeiten, und viele von ihnen standen plötzlich ohne Arbeit und Mittel da. Dann erhielten sie nach langem Warten plötzlich und über Nacht die Ausreisegenehmigung. Die sowjetischen Behörden hatten wohl gedacht: ist man diese fünfzig lästigen Störenfriede los, wird das Problem ein für allemal gelöst sein. Doch als die Ausreise dieser ersten Familien bekannt wurde, meldeten sich noch am gleichen Tage weitere fünfzig Familien zur Auswanderung an! Zur Zeit sind es 150.000 Personen, die Gesuche um Auswanderung gestellt haben. Die Juden der Sowjetunion fühlen sich eben in ihrem Status als Juden diskriminiert.

Sogar bekannte Ärzte, Wissenschaftler und Künstler, die unter diesem Regime die höchsten Rangstufen erklommen, identifizierten sich mit diesem Gefühl. Das bekannteste Beispiel dafür ist der international bekannte sowjetische Atomphysiker Leibo-witsch. Für ihn ist jetzt schon eine Stelle am Weizmann-institut bereit, aber er erhält keine Ausreisegenehmigung, da die russischen Behörden befürchten, daß sein Beispiel Schule machen könnte.

FURCHE: Wie können Sie sich die Auswanderungspolitik der Sowjetunion erklären?

PELED: Zuerst versuchte die Sowjetunion, die Auswanderung mit Hilfe von Schauprozessen und anderen Maßnahmen zu stoppen. Doch als der Druck von außen immer stärker wurde, sah sich die sowjetische Regierung gerade in den letzten Monaten gezwungen, diesem Druck wenigstens teilweise nachzugeben, da sie aus politischen und wirtschaftlichen Gründen interessiert ist, im Westen eine gute Figur zu machen und 'an Prestige zu gewinnen; Gründe, die mit den Juden selbst gar nichts zu tun haben. In diesem Dilemma versucht die Sowjetunion, auf der einen Seite die Auswanderung soweit wie möglich zu unterbinden und anderseits einen dünnen Strom ihr lästig gewordener Auswanderungswilliger, etwa 2000 bis 3000 pro Monat, himauszulas-sen. In Buchara und Grusion (Georgien) konservierten die Juden ein sehr lebendiges nationales und religiöses Bewußtsein, das im Gegensatz zum russischen Regime steht. Die Sowjets waren deshalb ganz froh, diese störenden Minderheiten endlich loszuwerden. Um das Ausmaß des Auswanderungswillens zu bremsen, versuchte man gleichzeitig, eine Kopfsteuer für auswanderungswillige Akademiker gesetzlich einzuführen und vielen prominenten Juden Schwierigkeiten zu bereiten.

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