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Lagär

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Im Herbst des Jahres-1972 machte ich mit meinem Vetter aus Laas im Vinschgau einen Weg zu dem Hof Lagär, von dem wir herstammen, und der kein Hof mehr ist, sondern eine Ruine, abgebrannt und nicht mehr aufgebaut, weil die Wasserversorgung schlecht war; als wir dann oben waren, konnten wir es sehen: ein gutes Stück weg vom Haus ein Felsspalt, aus dem es tropfte; darunter Moos und ein tellergroßer Kiesboden gefüllt: das Wasser durchsichtig wie Luft, dann Ablauf in die Wiese; im Felsspalt ausgebleichte Stücke abgebrochener Holzröhren - das war wahrscheinlich alles, sagte der Vetter, von da haben sie geholt.

Die Ruine von Lagär ist vom Tal, von Straße und Orten auf dem Talboden im Vinschgau, zu sehen; sie liegt auf dem „Sonnenberg“, der nördlichen Talseite, die gegen den Lauf der Sonne von Osten über Mittag-Süd bis Untergang-Westen offen ist. Dieser „Sonnenberg“ ist eine mittlere Lage oberhalb des ersten steilen und meist felsigen Anstiegs des Berghanges, sie kommt als eine Stufe geringeren Anstieges und an manchen Stellen sogar mit fast ebenen Böden, oben wird sie begrenzt durch einen Strich, über dem wieder gebirgiger Anstieg ist: Fels und Wald, der Wald schon schütter, denn hier ist bald die Baumgrenze erreicht: Lagär ist auf 1560 m; die Orte und Hofstätten, über die wir hingehen auf dieser Stufe am Sonnenberg, liegen noch höher: St. Martin auf 1736 m, der Hof Fora auf 1689 m.

Ich lese diese Ziffern von dem Kartenblatt „Läces-Latsch“ und „Si-landro-Schlanders“ des „Istituto Ge-ografico Militare“, und ich könnte das nun folgende, nötig zu erklärende, leichter auf diesen Kartenblättern zeigen, als es in Sätzen zu notieren. Zwei Sätze sind nötig: der Name „Sonnenberg“ geht auf der ganzen nördlichen Seite des. Vinschgaues von Meran bis Mals fast ohne Unterbrechung durch. Er hat seine Unterabteilungen von den Orten im Tal, über denen er liegt als der „Schlan-derser Sonnenberg“, „Kortscher Sonnenberg“; oberhalb Laas heißt er „Dörferberg“. Das wäre der zweite Satz: dort sind Dörfer (sie heißen Ta-naas und Allitz); weiter unten nur Höfe oder Hofgruppen; der Sonnenberg könnte als eine der für Südtirol so bezeichnenden Mittelgebirgslandschaften gelten, fehlte es ihm nicht an Ausdehnung, da er für Strecken einfach nur ein Stück Hang ist, und fehlte es ihm vor allem nicht an Wasser; das ist ein Hauptmangel, und er ist sofort auch aus dem Kartenblatt zu erkennen: viele Namen, auch solche mit der Verbindung „haus“ und „platz“ - aber daneben statt des schwarzen Vierecks, das ein Haus darstellt, ein Viereck dünner Punkte, das „Nicht-mehr-Haus“ oder Ruine bedeutet, oder auch die Abkürzung „rov.“ neben dem Namen.

Das Jahr, in dem Lagär abgebrannt und Ruine geworden ist, habe ich genau nicht im Gedächtnis; nach meiner Erinnerung an einen Aufsatz in einem alten Heft der Zeitschrift „Der Schiern“, Bozen, war es in einem Jahr knapp vor dem Ersten Weltkrieg. Dagegen kann ich einen Spruch auswendig, der sich auf das Ereignis bezieht, er ist im Vinschgau überall überliefert, er heißt:

Auf Zuckbichl und Lagär ist der Schmalzkübl laar, auf Patsch und Mittreben wird er nicht mehr lange heben

- und dieser Spruch deutet an, daß das Abbrennen wahrscheinlich nur , ein Umstand mehr war, den Hof zu verlassen; daß die eigentüche Aufforderung ihn aufzugeben, eine allgemeine Not war; und in Gestalt dieser wirklichen Aufforderung von Not des Wassers und daher Unmöglichkeit den Betrieb zu halten - sonst wären in dem Spruch nicht gleich ein paar andere Höfe mitgezählt. Die Wirklichkeit hat die Wahrsage des Spruches längst eingeholt: auch Patsch ist verlassen, es war auf unserem Weg über Lagär die dann übernächste Station: auch Ruine, ausgenommen eine Mauerecke zwischen

den Hauptmauern, sie war notdürftig überdacht als Unterkunft für den Schäfer in der Weidezeit des Sommers. Sehe ich auf die Karte, so stehen dort als Ruinen die Namen von Anwesen, die in den Erzählungen meiner alten Tante in Laas, neunzig Jahre alt, noch als Betriebe im Rang von Hauptsitzen vorkommen, so der Hof Zermini oberhalb Schlanders, Seehöhe 1690 m; dahin waren diese Tante und ihre Schwester als junge Mädchen in ihre erste Dienststelle zum Hüten und zur Landarbeit gekommen; die Schwester war schon nach einer Nacht wieder heimlich davon, die Tante hatte einen Sommer lang ausgehalten - oder war es umgekehrt; die Geschichte wird heute von den Cousinen erzählt, sie geben die Möglichkeit einer Verwechslung zu; die Tante selber erzählt nicht von der Zeit. Sie erzählte von ihrem Vater, der ins Tal kam nach Schlanders, Kortsch und Laas; von seinem Beruf, seiner Art zu leben; das ist eine private Geschichte, sie gehört nicht hierher in diese Nennung von Orten. Aber Lagär gehört hierher, dort war er geboren: Vater, das heißt meines Vaters Vater, der als einer der Söhne schon im Tal, in Schlanders, geboren wurde; und auch der Hof Zermini spielt eine gewisse Rolle in dem Leben dieses ersten Mannes, der vom Sonnenberg herunter ins Tal kam. Diese Rolle bleibt unbesprochen, aber etwas, das ich nicht mehr weiß, muß ich als Kind von ihr gehört haben, sonst hätte ich diesen Schleier von Bedeutung nicht im Kopf. Jetzt muß mir der Schleier auf der Landkarte genügen: ein Feld von Schraffierung, Pünktchen, engem Parallelstrich und Verdickung wie zu Nageleindrücken, Halbmonden, das sind

dann Absätze von bloßem Fels; und es zieht sich aus weitem Kreis zusammen, der Kreis unten ist der ganze „Sonnenberg oberhalb Schlanders“ mit allen Namen: Zermini, Patsch, Zuckbichl, Lagär, Fora, St. Martin; und der Punkt, zu dem es sich in die Höhe zieht, ist die Spitze, Dreieckszeichen, der Berg, und er heißt eben so: Zermini, 3059 m.

Unten überall die Ruinenzeichen: Zermini und die schon angeführten, und weiter Talatsch, Pardatsch, Patleid.

Jetzt gehe ich den Weg durch die Namen. Zu dem ersten: St. Martin, fahren wir mit der Seilbahn; und vom Vetter werde ich, wie immer auf solchen Reisen, aufmerksam gemacht auf unscheinbare Dinge - ich würde sie nicht beachtet haben. Hier: mit der Seilbahngondel sind Kisten mit frischem Salat von St. Martin heruntergekommen - jetzt im Oktober ist dort oben, bei Sonnenstrahlung und nicht mehr purer Hitze, dafür beste Zeit; und der Preis, der in Meran erzielt wird, ist gut. Aber eine Bedingung dazu: Seilbahn - die ist nötig. Eine andere Bedeutung hat ein ähnlich großes Anwesen, das auf dem Sonnenberg direkt über Schlanders liegt; der Besitzer ist Schweizer. Der Vetter sagt: ein Schweizer Rüstungsfabrikant, aber seine Familie wohnt auch oben und hält die Wirtschaft in Schuß - aber Zuschuß, das ist hier die Bedingung, so floriert es. Wohin wir gehen floriert nichts mehr. Uber einen Rücksprung des Hanges im Schatten kommen wir wieder heraus auf einen Vorsprung; und davon hat

der Platz auch den Namen: Fora, so heißt das Haus, und es sieht aus, als habe es sich immer geteilt: drei Häuser hintereinandergeschachtelt auf dem Vorsprung. Ausdehnung in die Breite ist nicht möglich, denn links und rechts schwemmt das Wasser die Bergflanken ab, es unterbricht auch den Weg, der hier „Kirchsteig“ heißt, wegen der Kapelle in St. Martin, dahin die Leute aus Fora am Sonntag gehen. Sie gehen nicht wie Wanderer, sondern im dunklen Anzug, auch wenn sie sich an der Stelle, wo der Weg in die Tiefe gespült ist, am Seil festhalten müssen. Es sind fünf Familien in den drei Häusern, sie haben Verwandtschaft im Tal, der Vetter kennt sie. Aber warum bleiben die Leute in Fora, wo ihnen das Wasser die halbe Wiese wegschwemmt. Weil sie Wasser haben, das ist eine Hauptsache für Bleiben. Aber wie können sie bleiben bei kaum Ertrag. Weil von drei Familien vier Männer ins Tal in die Arbeit gehen: zwei ins Lagerhaus, einer in einen Betrieb, der Türbeschläge herstellt, einer ist bei einer Tankstelle.

Wir sind in Lagär, da mache ich eine Zeichnung. Die Mauern einen Meter dick; alles, was Holz war, weg; aber alles, was Stein war, wie von gestern fest. Der Vetter kann alle Räume benennen: Kammer, Stube, Küche, hier war die Feuerstelle, die Steine sind schwarz; da sind Stufen, das war der Abgang zum Stall; und dort draußen die Auffahrt zur Tenne, das ist das einzige Stück eingebrochener Mauer. Ich sage mir: hier muß ich mir möglichst viel merken. So bleiben wir ganz nüchtern wie bei einem Geschäft, bei dem alles beachtet werden muß, auch die Lage - ja, die Lage ist günstig, es läßt sich an der Wirklichkeit ablesen wie aus einer Vereinfachung von Bild aus der Landkarte: der Fächer Wiese nach unten, auch hier sind Terrassen aus Stein; und als oberste Terrasse das Haus, so sieht es aus; und dahinter der Anstieg des Berges. Aber es ist ein kompakter Anstieg, aufgewölbt wie eine Kuppel, und gewachsener Fels, kein lockerer Stein, der abbricht; dann Waldbäume, da käme auch eine Lawine nicht durch. Die Spitzen der Waldbäume, Lärchen, Bergföhren, sind am Horizont oben. Wir sehen hinauf und richten uns zum Gehen. Wir sind fertig, haben alles aufgezeichnet, auch gegessen, wir packen ein.

Da geschieht etwas. Es kann nur bei solchem Einpacken und Nachsehen, ob nichts liegengeblieben ist, geschehen, bei keiner Zeit für Aufmerksamkeit oder Empfindung, sondern den Rucksack eingehakt, den verdrehten Riemen glatt gedreht, da sehe ich den Adler, der oben aus den Wipfeln hervorkreist, ich sehe ihn deutlich, weil er in eine Nähe kommt, als wäre es unser Dach über dem Haus; er kreist langsam über die Wiese und zurück in den Wald, er kommt ein zweites Mal, er kreist dreimal im ganzen; ich denke: hinaus und zurück, ich könnte denken: gegen die Sonne und zurück, aber ich denke es nicht. Ich sage: Da, ein Adler! Der Vetter sagt: Ja, der sucht etwas. - Er kommt kein viertes Mal, und so lange hätten wir auch nicht gewartet, bei einem vierten Mal wären wir schon beim Gehen gewesen, sind es, an der Felsspalte vorbei, „da haben sie Wasser geholt“. „Das war zuwenig. Sonst - sie hätten es nicht aufgeben müssen.“ - Zwischen die Worte, wie wir sie sprechen, kommt die Erschütterung durch die Schritte, Steinkollern, Nadelduft. Der Vetter pflückt einen Zweig von einer Pflanze, es ist eine Art Königskerze, aber er sagt: es ist eine Begleitpflanze von Weizen: wo sie wächst - bis an die Stelle wächst auch Weizen.

Als wir unten sind und es Abend wird - ich denke, wie es abends jetzt oben ist. Als ich zwei Tage später unten auf der Straße fahre und hinaufsehe, kann ich es auch im Fahren sehen: als erstes den grauen Strich, dann darüber die Felskuppel, darunter den Fächer Wiese, dazwischen ist die Trennlinie und ein Stück davon der graue Strich: die Trennlinie - der Weg, der graue Strich - das Haus.

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