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Land der Freiheit

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Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz verkündet. Die Bundesrepublik Deutschland war entstanden. Was ist aus ihr geworden? Stecken ihre Parteien in der Krise?

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Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz verkündet. Die Bundesrepublik Deutschland war entstanden. Was ist aus ihr geworden? Stecken ihre Parteien in der Krise?

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Auf der Geburtstagstorte brennen 40 Kerzen. Die Vierschichtentorte - CDU, CSU, SPD und FDP — braucht nach Meinung vieler Vertreter der .Altparteien“ (ein Begriff, der sich auch in der Bundesrepublik Deutschland einzubürgern beginnt) keine grüne Verzierung, aber auch keine braune Glasur.

Der Welt demonstriert die Bundesrepublik mit einer Unzahl von Feiern — verteilt auf das ganze Jahr 1989 -, daß das Land aus der schwarzen und blutigen Vergangenheit seinen Weg in eine goldene Zukunft gefunden hat.

Doch das gilt summarisch wohl nur für das eine Deutschland - und das andere? Im Zug von Regensburg nach Westberlin tritt die unmenschliche Realität und -

wenn man will — unbewältigte Vergangenheit Deutschlands im Grenzbahnhof Gutenfürst drastisch vor Augen. Der Eiserne Vorhang ist bis in den Bahnhofsbereich zugezogen. Die beiden Paare aus Australien im Nebenabteil staunen. „Könnten Sie kurz vom Fenster Weggehen, wir haben so etwas noch nie gesehen.“ Der Grenzschutz ist rasch zur Stelle. Eine Videokamera wurde gesehen. Nach langem Hin und Her — Verständigungsschwierigkeiten — müssen die Szenen vom Grenz- bähnhof gelöscht werden, wovon sich der Offizier auch überzeugt: „Sonst können Sie bei uns alles filmen.“

Der Zug zuckelt langsam durchs Vogtland über Leipzig und Potsdam nach Westberlin in den Bahnhof Zoo. An vielen Stellen muß äußerst langsam gefahren werden. Die Bahnschwellen — aus Zement und salzhaltigem Ostseesand — zerbröseln bereits, Unfälle werden befürchtet. Nur eines ist stabil in diesem widersprüchlichen Deutschland: Die Mauer durch Berlin, gehegt und gepflegt ist sie von der Ostseite her das einzig Weiße im Grau der Stadt, von der Westseite besehen ein kilometerlanges Spruchband: „Mauer zu verkaufen“.

Sie soll noch hundert Jahre stehen, wenn es nach dem Willen „des Herrn aus dem Saarland“ (so Helmut Kohl), Staats- und Parteichef Erich Honecker, geht. .Aber das glaubt er wohl selbst nicht“, meinte der deutsche Bundeskanzler bei einem Kongreß der Konrad-Adenauer-Stiftung am vergangenen Wochenende im Berliner Reichstag - knapp vor der Mauer.

Das Grundgesetz in der Bundesrepublik — Anspruch und Wirklichkeit — war Thema des Kongresses, bei dem die 40jährige Bundesrepublik als eine der institutionell stabilsten Demokratien der Welt bezeichnet wurde, die auch eigenständige Beiträge zur Entwicklung der parlamentarischen Demokratie erbracht habe, deren politische Kultur nach wie vor aber ungefestigt sei — so der Politologe Alexander Schwan.

Unter dem Eindruck der Wahlniederlage seiner Partei in Berlin sprach der Regierende (CDU-) Bürgermeister Eberhard Diepgen von gewissen „Zeichen an der Wand“, die manche in der Bundesrepublik zu erkennen glauben: Abwendung von der Politik; Mangel an Vertrauen in demokratische Prinzipien und Institutionen; rapider Wertewandel und

Verlust geistiger Orientierung; übersteigerter Individualismus; Streben nach individueller Autonomie gekoppelt mit einem starken Mißtrauen gegen Ordnungen und Regeln; rückläufige Gemeinwohlorientierung.

Der Anlaß zur Sorge wurde von Diepgen bald beiseite geschoben — die Mehrheit der Wähler würde ja ohnehin nur demokratische Parteien anerkennen — und auf das ungebrochene Bewußtsein von der Einheit der Nation in Frieden und Freiheit verwiesen. „Die Zukunft gehört dem Prinzip Freiheit“, betonte Berlins Regierender Bürgermeister, „40 Jahre Bundesrepublik Deutschland dürfen uns alle in dieser Erwartung bestärken.“

Die Freiheit — wie stehen die Deutschen zu ihr? Bayerns früherer Kultusminister Hans Maier kontrastierte die „alte deutsche Freiheit“, jahrhundertelang Charakteristikum der Deutschen, mit dem Nachkriegsbild der freiheitslosen Deutschen. Die Siegermächte hätten Deutschland als „Land des Gehorsams, nicht der Freiheit“ gesehen. Die Zweite Republik habe aber die Erste insofern korrigiert, als „Ideen eines präexistenten Gemeinwohls außerhalb der Parteiendemokratie ebenso rigoros verabschiedet wurden wie der Wunschtraum einer herrschaftslosen Demokratie“. So habe man die Exekutive gestärkt, die Parteien ausdrücklich in die Verfassung miteinbe-

zogen und ein formalistisches durch ein wertgebundenes Verständnis der Verfassung ersetzt.

„Das heißt nicht“ — so Maier wörtlich —, „daß die Demokratie in Deutschland für alle Zeiten überm Berg ist, ganz im Gegenteil. Wir erleben ja gerade im Augenblick einen erregenden Wettstreit um das Verständnis von Politik und um den Begriff des Bürgers. Nicht unbeträchtliche Kräfte organisieren sich heute in sozialen Bewegungen außerhalb des Parteiensystems — oder drängen innerhalb des Parteiensystems an dessen linke und rechte Ränder. Sie setzen partikulare Ziele mit hohem Identifikationsgehalt gegen ein Ganzes, das Rationalität, Einsicht ins Notwendige — und damit mancherlei Konsequenzverzicht und Kompromißbereitschaft — verlangt. Das Parteiensystem zeigt seit einigen Jahren gegenüber diesen Herausforderungen deutliche Schwächezeichen. Seine Krisenanfälligkeit ist bezeichnenderweise dort am stärksten, wo bisher die größte Bindekraft lag: bei den Volksparteien.“

Maier votierte für ein Mobilisieren und Nutzbarmachen bürgerlicher Freiheitsimpulse durch den Staat — „in einem Freiheitsverständnis, das die verhängnisvollen Alternativen unserer Geschichte (hie gesetzlos persönliche, da gesetzlich unpersönliche Freiheit) überwindet“.

Das bundesdeutsche Grundgesetz sieht in der Friedensarbeit ei-

ne Aufgabe des deutschen Volkes in einem vereinten Europa - „im Bewußtsein seiner Verantwortung - vor Gott und den Menschen“. Was heißen soll, daß der Staat dem Menschen nur mit Ehrfurcht und Respekt begegnen dürfe, wie Bundesminister a. D. Bruno Heck betonte.

Erfährt der Bundesbürger das heute von seinem Staat in genügendem Ausmaß? „Wie kommt es, daß aljp Sorgen gleich in Ängste Umschlägen? Woher die Zuflucht zum Alkohol, die Flucht in die Droge, ins alternative Leben, ins Sektenwesen; warum der Auszug aus den Institutionen? Woher der hemmungslose Sexualismus? Die ständig steigende Kriminalität, vor allem bei Jugendlichen, doch auch bei Kindern?“ fragte Heck und meinte, daß die Wirklichkeit von der Verfassung her in Frage gestellt werden müsse und nicht umgekehrt.

Doch eben die Wirklichkeit erfordert politische Kompromisse. Für Helmut Kohl ist dazu eine Politik der Mitte erforderlich. In einem sehr persönlich gehaltenen Gespräch mit Hans Maier legte er auf dem Hintergrund des Grundgesetzes ein Bekenntnis zu Europa ab, auch wenn viele in der Bundesrepublik fragten, wie denn Europa und die Einheit der Nation miteinander zu verbinden seien. Zuvor hatte Renate Köcher vom Demoskopie-Institut Allensbach von einem deutlich gesunkenen Interesse der Bundesbürger an der europäischen Integration trotz rasch voranschreitender Einheitsbemühungen gesprochen.

Aber die Wirklichkeit gehe auch an den Deutschen nicht vorbei, betonte Kohl und kritisierte, daß viele die großen Veränderungen in Europa noch nicht begriffen hätten. Der Herausforderung der Parteien in einem Land, in dem - laut Köcher — ein Drittel der Bevölkerung das eigene politische Wertesystem von keiner Partei repräsentiert sieht, könne laut Kohl nur mit einer klaren Programmatik entsprochen werden; was heißeh soll, daß sich CDU und CSU gegen antidemokratische Tendenzen sowohl der Republikaner, aber auch der Alternativen Liste in Berlin stemmen müßten.

Dabei kommt offensichtlich das Grundgesetz als Meßlatte der Deutschen wieder zu Ehren. Und damit ist der Mensch — und nicht nur der deutsche - Testfall deutscher Politik.

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