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Land der Träume
Ich kam aus München, vom Kon -greß über die neuesten Entwicklungen der neuesten Technologien. Ich mußte ganz dringend zum nächsten Termin in einer der vielen fleißigen Städte im Ruhrgebiet. Den Luxus des Tagungshotels konnte ich gar nicht wahrnehmen; allein die Nähe zum Tagungsort war das, was zählte. Und die Verbindung ztim Flughafen, zur nächsten Autobahnauffahrt, zum Hauptbahnhof. Die Entscheidung für das Verkehrsmittel wurde vom Terminkalender diktiert: schnell muß es gehen, aber auch verläßlich.
Da schied im Herbst, auch im Winter, das Flugzeug aus. Nebel gibt es regelmäßig - an der Isar und an der Ruhr. Das Auto ist unpraktisch. Man ist sein eigener Chauffeur, kann nicht arbeiten. Wer bei Tempo über 130 an die nächste Sitzung denkt, ist in Lebensgefahr. Außerdem ist man müde, wenn man ankommt, seinen Gesprächspartnern von vorneherein unterlegen. Es bleibt die Bahn.
Der Intercity gleitet durch die Landschaft, kein Schwanken, kein Schlingern mehr: der Kaffee liegt spiegelglatt in der Tasse. Das Service ist ausreichend, noch nicht unfreundlich. Es ist früh am Morgen, da sind die Leute von der Bahn noch so frisch wie die Brötchen und die Tageszeitung.
Nach Würzburg beginnt der Intercity zu schweben, manchmal über unsichtbare Brücken, oft durch Tunnels. Das ist die richtige Zeit für die Zeitung: Nachrichten über Nachrichten über die „revolutionären Veränderungen" in der DDR. Im Großraumwagen neugierige, ungläubige Menschen, sie schütteln die Köpfe. Wer hätte das alles für möglich gehalten, noch gestern? Bei so viel Gemeinsamkeit kann kaum ein Gespräch aufkommen.
Ganz vorne rechts wird heiß diskutiert. Auf den Flugzeugtischchen stehen Edelpils-Flaschen und Gläser, in denen sich das Bier nicht hält. Es geht um das Bundesliga-Fußballspiel gestern abend. Das Thema bewegt die Zecher, die anderen Passagiere sind gestört: Walk-men werden übergestülpt, Laptops in Betrieb genommen, wer nicht schon dort war, flüchtet in den Speisewagen. Dort ist es still.
Dann landet der Intercity in Bebra. Rasch hinaus: „Der Zug hat hier nur kurzen Aufenthalt." Schnell durch den stets verlassenen Umsteigebahnhof auf den Bahnsteig gegenüber, der Schnellzug nach Düsseldorf wartet vielleicht schon.
So war es doch immer. Doch heute: Menschen an Menschen, diszipliniert schweigend, graublaugrün uniformiert, in mehrfach gewundenen Schlangen angestellt, verhalten fröhlich, unsicher gespannt, vorsichtig neugierig. Vorne beim Postamt gibt es das begehrte „Begrüßungsgeld"! Niemand braucht hier jemanden wirklich zu begrüßen, Bebra ist kein Ort, an dem man üblicherweise ankommt und bleibt.
Vorne am Bahnsteig wandern nach der Mode Gekleidete unruhig auf und ab. Immer wieder wird die linke Hand hochgereckt und nach innen gedreht: „Wo bleibt der Zug? Kann der Termin eingehalten werden?" Dennoch wagt keiner, seinem Unmut Lauf zu lassen. Wird man nicht genau beobachtet, von den „Brüdern und Schwestern?"
Dann schiebt sich der D-Zug aus dem Osten langsam, zögernd fast, in den Bahnhof. Die Älteren erinnern sich an die Wirklichkeit nach 45, die Jüngeren an nostalgische Filme: ein Zug, brechend voll, die Klassengrenzen längst durchbrochen, Menschen gepfercht, wie es dem Vieh hierzulande längst nicht mehr zugemutet werden darf, und dennoch: alles ruhig, heiter fast. Die Neuankömmlinge flüstern bloß, machen den Hineindrängenden verlegen, höflich, bescheiden Platz, geben Sitze in der ersten Klasse frei, beschämen die Ungeduldigen.
Dann - die Verspätung ist nicht mehr einzuholen, die Termine endgültig geplatzt - fährt der Zug an. Die Reisenden der neuen Normalität hängen an den Fenstern, wundern sich über alles und jedes, loben das Selbstverständliche, begeistern sich an Alltäglichkeiten, nehmen dankbar Bananen und Orangen an, erzählen von den kläglichen Verhältnissen drüben und überschätzen die Lebenslust hüben.
„Ob es bei uns", singt ein Sachse, „je so schön werden wird wie bei Euch?" Ein pensionierter Straßenbauarbeiter aus Thüringen, früher Bauer, hat Tränen in den Augen als der Zug an einer Weide mit wiederkäuenden Kühen vorbeirollt. Eine stolze Mutter aus Dresden erzählt von ihrem Sohn und der Schwiegertochter, die erst vor kurzem „nach Euch rübergemacht haben". Es geht ihnen bestens: Sie sind Ärzte, arbeiten am städtischen Krankenhaus und können im Schwesternheim leben. „So schön hatten sie es noch nie!". Und dann noch dies: „Bei Euch, da lohnt es sich doch zu leben. Da weiß man doch, wofür man arbeitet. Ihr habt doch alles."
Und niemand hat den Mut und sagt diesen Menschen, denen alle Hoffnungslosigkeit ihre Träume nicht rauben konnte, die bittere Wahrheit von der Hoffart, die über unserem Leben im obszönen Wohlstand wuchert.
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