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Vorrede. Wer kennt dieses Gefühl nicht? Wir sollen irgend jemanden besuchen, gehen durch den schattigen Toreingang, befinden uns plötzlich in einem Garten, sehen keinen Menschen, wollen laut grüßen, klopfen, nach dem Gastgeber schauen, bleiben aber stehen, unfähig, uns zu rühren, denn: dieser Garten ist ja der Garten unserer Kindheit, längst zur Erinnerung geworden und auch als Erinnerung nur ein schwacher Schimmer - und nun liegt er da, greifbar, betretbar, duftend im Licht eines Nachmittags, der offenbar seither nicht vergangen ist.

Auf diese erste Regung des Erkennens folgt der Zweifel. Kontrollinstanzen unseres Hirns schalten sich ein. Hat es diesen Garten der Kindheit tatsächlich gegeben oder sind wir nur einer Einbildung zum Opfer gefallen? Angesagter, halten sie sich an die Tatsachen! Hören Sie gefälligst auf, in aller Öffentlichkeit zu halluzinieren!

Und nun, heraus mit der Sprache! Sind es wirklich Hortensien gewesen, gelbe Rosen und Dahlien, Thujen und Hyazinthen? Standen die Obstbäume tatsächlich hinter dem niedrigen Zaun, und sah man in der Ferne wirklich die Pappeln? Haben Sie diesen Garten am Ende nicht bloß geträumt? Oder war er nicht wenigstens wesentlich kleiner, nur ein Stückchen Erde, von Mauern umfaßt, von ein paar kümmerlichen Blumen bepflanzt, so ausgedehnt bloß in Ihrer Phantasie, da Sie die Güte Ihrer Großmutter auch in der Ausdehnung Ihres Gartens zum Ausdruck bringen wollen! Angeklagter, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit!

So, ungefähr, sind die Augenblicke des wirklichen oder vermeintlichen Wiedererkennens.

Oft bleiben die Zusammenhänge verschleiert. Manchmal fällt plötzlich Licht in das Dunkel, in dem die vergessenen Erlebnisse liegen und die ineinander übergehenden, konturlos gewordenen Erinnerungen. In solchen Minuten verstehen wir, warum wir uns - zum Beispiel - in einem Haus heimisch fühlen können, obwohl es an die Behausungen unserer Kindheit nicht erinnert. Es mag sein, daß in solchen Fällen die Metamorphose der Erinnerung ein anderes kleines Abenteuer für uns bereit hält:

Ein Beispiel erwünscht? Bitte.

Heimkehr nicht in die verlorene, sondern in die ersehnte Behausung der Kindheit: in das Geartete und durch wiederholte Tagträume dennoch bereits Vertraute.

Vielleicht haben Urgroßväter hinter ähnlichem Gemäuer vorübergehend Zuflucht gefunden: wandernde Handwerker, Gelegenheitsarbeiter, Musikanten oder mietbare Schreiber der Wochenmärkte im Dienste von verliebten Köchinnen oder prozessierenden Bauern, die es drängte, sich schriftlich zu äußern, ohne des Lesens und Schreibens kundig zu sein. Vielleicht war einer der Ruhelosen in ein Haus solcher Beschaffenheit eingekehrt, in die Kühle der schattigen Stuben, in die stille Sanftmut einer schweigsamen jungen Witwe, die dem Gast leicht zunickte und den Tisch zu decken begann. Vielleicht aber war nichts Ähnliches geschehen und der Urgroßvater - oder dessen Urgroßvater - war bloß stehengeblieben in der Nähe des weiß getünchten Hauses und hatte es bloß sehnsuchtsvoll, neidisch, verbittert betrachtet, bis der Hund zu bellen anfing, der Hausherr vor die Türe hinaustrat und dem fremden Menschen so lange ins Gesicht blickte, bis dieser einen Gruß murmelte und weiterzog.

Die Erbschaft, die wir besitzen, ist uns nicht in ihrem ganzen Umfang bekannt; wir haben von irgendwelchen Ahnen nicht nur körperliche Merkmale und innere Neigungen erhalten, sondern auch aufblitzende Bilder der Erinnerung. Jeder Augenblick des Wiedererkennens von bisher niemals Erblicktem ist bloß eine ferne und schwache Aufhellung eines der in uns vorhandenen, durch das eigene primäre Erleben überschatteten Bilder. Die Bestürzung angesichts des Phänomens, das man deja vu nennt, ist nichts als ein Akt stürmischer Selbstbesinnung.

Die Häuser der Kindheit waren anders gewesen als dieses hier. Das Eisengitter des Treppengeländers ließ im verschlungenen Muster halb erborgen böse Zwerge sehen in breitkrempigen Hüten und in Pluderhosen, die kleinen Fäuste in die Hüften gestemmt. Die bunten Fensterscheiben einer Schwingtür ergaben das Bild eines Turmes, der jedes Mal, wenn jemand durch die Tür kam, in Stücke zerfiel.

Die Schnitzereien oberhalb der Lehnen der beiden Armsessel konnten leicht als grinsende Männergesichter erkannt werden; das geometrische Muster des großen Teppichs verbarg eine Schar von Raubvögeln, die sich bei künstlichem Licht aus ihrer Erstarrung lösten und sich lautlos, mit scharfen Schnäbeln und Krallen, in die Luft erhoben; und die hoch und breit emporragende Feuermauer des Nachbarhauses zeigte, graubraun und schmutziggelb befleckt, in den kantig auskragenden Schichten des abbröckelnden Verputzes manche merkwürdige Tiere, unter ihnen auch einen Löwen, über dem in weiten Röcken und mit emporgehobenen Armen eine Frau stand.

In den Toreingängen anderer Häuser gab es steinerne Fontänen in der Halbkreisform einer Muschel; das lange Haar einer halbnackten Frau hing in das Becken und war mit dem wirren Bart eines Männergesichtes verwoben, das zähnefletschend das Messingrohr im Mund hielt, aus dem das Wasser nicht floß. Frösche, Spinnen und Schmetterlinge hatten sich im Bart des Mannes verfangen. Im Gitterwerk, das die mit geschnitztem Holz getäfelte Kabine des Aufzugs vom Treppenabsatz trennte, litten kleine Lebewesen, von den Schlingpflanzen eines eisernen Urwaldes umrankt. Irgendwo schnappten Riesenschlangen nach kugelrunden Vögeln, die klein waren wie wasserblasse Äpfel und mit leisen Kinderstimmen weinten.

Aus diesem bösen Garten der geheimnisvollen, meistens verkrüppelten und grausamen, jedenfalls übermächtigen Gestalten, die vorerst wie durch einen Zauberspruch erstarrt waren, sich jedoch in jedem Augenblick wieder in Bewegung setzen konnten, aus dieser andauernden Gefährdung konnte man fliehen, zum Beispiel in die Krankheit.

Der Arzt kam. Die Kühle des Silberlöffels berührte die Zunge; es war wie ein plötzlicher Schlag, lustvoll und widerlich zugleich. Die silberne Säule im Fieberthermometer stieg über den roten Punkt. Der Blick auf die weiß überzogene Daunendecke streifte über eine hügelige Landschaft, die sich, frei von bedrohlichen Wunderwesen, gegen die Ferne der beiden Füße im ruhigen Dämmerlicht verlor. Diese Welt der Kuppen und Kuhlen fügte sich der gestalterischen Laune, türmte sich manches Mal über dem linken Knie und glättete sich über dem rechten Bein zugleich zur Ebene, auf der ein Zinnsoldat wohlbehütet marschierte.

Hier entstand, vielleicht auch durch jene verschütteten Erinnerungen geformt, das Modell des Hauses, in das man als erwachsener Mann dann heimkehren durfte: die sanfte Landschaft und in ihr der übersichtliche freie Raum eines mit niedrigen Mauern umgebenen Gartens und in den Abhang hineingebaut, von diesem beschützt, dem leicht ansteigenden Boden folgend das Haus selbst, erbaut irgendwann gegen Ende des letzten Jahrhunderts.

Zwei Straßen weiter wuchs Wein; am Rande des Gartens, etwa in Dachhöhe, stand ein Nußbaum und hinter dem Haus stand der zweite; und wenn man sich ins Gras auf den Rücken legte, dann konnte man in das immer ein wenig bebende Geäst eines Birnbaumes blicken, dessen längster Zweig fast über die Eingangstür des Hauses reichte. Ein langer, in wenigen Stufen ansteigende Gang verband die vier Wohnräume, und wenn man mit der Hilfe eines Plattenspielers ein wenig musizierte, war das Haus ein einziger Klangkörper, in dem man saß, leichten Weißwein in dikken Gläsern betrachtend.

Noch wirkten die Schreckgespenster: durch die Angst, man müsse für redliche Ruhe durch allerlei Unglück bezahlen und durch den Zweifel an der Möglichkeit, eines Tages tatsächlich heimkehren in die Geborgenheit des eigenen, von fremden Kräften nicht deformierten Lebens. Etwas lauerte noch; aber: es sprang doch nicht los. Man war eingetreten, blickte in das freundliche Schimmern eines vertrauten Lächelns, schloß hinter sich die Tür und war - endlich - daheim.

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