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Landschaft mit schwarz-roten Eisbergen

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Wenn man den Schlußfolgerungen, einer dreiteiligen Untersuchung über „öffentliche Meinung und politisches Verhalten“ Glauben schenkt, so hat so manches über» den Österreicher grassierende Vorurteil doch eine handfeste Basis. In dieser Arbeit des Blecha-Mitarbeiters. und sozialistischen Publizisten Albrecht K. Konecny (erschienen im „Journal für angewandte Sozialforschung“) fügen sich die analysierten Umfrageergebnisse weniger zum Bild des Österreichers als des großen Verbindlichen und Sanguinikers, der gern jedem recht gibt, als zum Bild eines Nestroyschen Zerrissenen, der nicht weiß, wer stärker ist: „Ich oder ich?“

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Wenn man den Schlußfolgerungen, einer dreiteiligen Untersuchung über „öffentliche Meinung und politisches Verhalten“ Glauben schenkt, so hat so manches über» den Österreicher grassierende Vorurteil doch eine handfeste Basis. In dieser Arbeit des Blecha-Mitarbeiters. und sozialistischen Publizisten Albrecht K. Konecny (erschienen im „Journal für angewandte Sozialforschung“) fügen sich die analysierten Umfrageergebnisse weniger zum Bild des Österreichers als des großen Verbindlichen und Sanguinikers, der gern jedem recht gibt, als zum Bild eines Nestroyschen Zerrissenen, der nicht weiß, wer stärker ist: „Ich oder ich?“

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Solche Zerissenheit resultiert aus Umfragen, bei denen eine bemerkenswerte Bereitwilligkeit zutage trat, gegensätzliche Standpunkte zu bejahen. So etwa den Satz von der Notwendigkeit großer politischer Ideen und gleichzeitig auch die Aussage, es sei für eine Partei wichtiger, gut zu taktieren, als idealistische Vorstellungen zu haben. Annähernd gleich große Mehrheiten bejahten beide Sätze. Jeweils ein Viertel bis, in Extremfällen, ein Drittel der Befragten beide widersprechenden Standpunkte. .

Dabei dürfte allerdings dem Autor eine mögliche Erklärung für derart „breitgefaßte politische Standpunkte“ entgehen — nämlich die Möglichkeit, daß die Standpunkte zum Teil gar nicht so breitgefaßt sind, wie sie auf Grund der Antworten scheinen. Zumindest bei den gleichzeitigen Bejahungen politischer Ideale und des Primates des Taktie- rens erscheint es nämlich nicht unmöglich, daß ein Teil der Befragten das Ja zur Wichtigkeit der Ideale als Zustimmung zu einem Imperativ, als Bejahung eines Soll, hingegen die Bejahung des Taktierens als Bestätigung des bestehenden Zustandes, als ein das „So sollte es sein“ ergänzendes „Aber so ist es“, gemeint haben.

Derart widersprüchliche Umfrageergebnisse können, müssen aber nicht, die Widersprüchlichkeit politischer Meinungen oder gar eines nationalen Charakters spiegeln. Sie können auch einfach das Resultat einer ungenauen, zuwenig differenzierenden Fragestellung sein. (Leider werden bei Konecny die Fragen, deren Bejahung und/oder Verneinung zu so weitreichenden Schlüssen führt, nicht im Wortlaut zitiert.) Es macht einen großen Unterschied, ob man die Befragten zwischen den Sätzen „Der Mensch soll gut sein“ und „Der Mensch soll schlecht sein“ (also echten Gegensätzen) wählen läßt, oder zwischen Aussagen wie „Der Mensch soll gut sein“ und „Der Mensch muß schlecht sein“, wo sich der Gegensatz zwischen Sollen und Sein, zwischen Ideal und Wirklichkeit, Norm und Verhalten, spiegelt, weil hier zu der Aussage „Der Mensch muß schlecht sein“ bewußt oder unbewußt ein Nebensatz wie etwa „… wenn er Erfolg haben will“ assoziiert werden kann. Es ist also, auf Grund der nicht wörtlich zitierten Fragen, schwer zu sagen, wo nun tatsächlich der Nestroy’sche Zerrissene endet und der ob des Sinnes einer Frage Ratlose beginnt.

Abgesehen von diesem methodologischen Einwand, wäre es interessant, zu wissen, ob im Zusammenhang mit der Bereitschaft zur Bejahung gegensätzlicher Aussagen signifikante Unterschiede zwischen Wien und den Bundesländern auftraten. Der Österreicher als ein Mensch des Sowohl — als auch: Ist es der Wiener im selben Maße oder etwa stärker?

Österreich hat auf dem Gebiet der empirischen Erforschung politischen und sozialen Verhaltens noch einen erheblichen Rückstand gegenüber den auf diesem Gebiet führenden Ländern aufzuholen. Die Sozialwissenschaftliche Studiengesellschaft (für deren Journal Konecny verantwortlich ist) leistet hier immerhin einiges Bemerkenswertes. Die gegenständliche Untersuchung bedeutet einen Schritt in unerforschtes Gebiet: es geht hier nicht zuletzt um die Zusammenhänge zwischen Massenmedien und politischen Haltungen, um die Rolle der Massenmedien in Konkurrenz mit den traditionellen, das politische Verhalten determinierenden Faktoren. Österreichs politische

Landschaft gleicht einer Landschaft mit Eisbergen, sprich: Lagern mit „harten Kernen“, die sich über viele Jahrzehnte hinweg als bemerkenswert stabil erwiesen haben (FURCHE Nr. 39, „Die politischen Galapagos- Inseln“). Einen „harten Kern“ der Argumentation von Konecny bildet der aus den letzten Nationalratswahlergebnissen abgeleistete Trend zur politischen und Meinungs-Emanzipation der dem bäuerlichen Dasein entglittenen Schichten in kleinen Orten, beispielsweise der weichenden Erben, die sich zusehends von ihrer bäuerlichen Umgebung emanzipieren. Ein tatsächlich nachweisbarer Trend, dessen Parallelität mit der geographischen Mobilität ebenfalls die letzten beiden Nationalratswahlen erwiesen.

Die Ansicht, daß sich dieser Trend gewissermaßen automatisch im Sinne von Zugewinnen der SPÖ und Stimmenverlusten der ÖVP manifestieren müsse, hat freilich ihre Grenzen genau dort, wo die Mutationsfähigkeit der ÖVP beginnt — und auch, wo durch die Zunahme der Wechselwähler und durch den Imagegewinn dieses Wahlverhaltens neue Mechanismen der Wahlentscheidung ins Spiel kommen. Konecny ist Sozialist. Österreichs Konservative sollten seine Studie genau lesen. Der wichtigste Schluß, den das bürgerliche Lager ziehen könnte, wäre die Erkenntnis, daß man sich in der rechten Reichshälfte eine da und dort noch immer gepflegte Theoriefeindlichkeit einfach nicht mehr leisten kann.

Ein Faktor, welcher, Konecny zufolge, aber nicht unwidersprochen, die Meinungsemanzipation im bäuerlichen Milieu förderte: das Fernsehen, das nach der Rundfunkreform im Sinne des Volksbegehrens nicht nur auf Grund der Programmreform, sondern nicht zuletzt durch den Ausbau des Sendemetzes eine „nicht zu Unrecht so genannte Jnformations- explosion“ “ brachte,, „die vor allem für Bewohner ländlicher und hier vor allem gebirgiger Gegenden den Zugang zu Informationen und auch Argumenten mit sich brachte, die ihnen bis vor wenigen Jahren unzugänglich waren. So sehr angenommen werden muß, daß bei der Verarbeitung dieser Informationen die traditionellen Beeinflussungsstrukturen noch intakt sind, so sehr ist aber sicher, daß allein diese zur Verfügung stehende Informationsmenge einen Einfluß auf die politische Meinungsbildung hat. Wenn nichts anderes eintritt, so ist doch zumindest dadurch erreicht, daß Argumente des jeweils anderen Lagers zumindest in unverzerrter Form aufgenommen werden können. Dies spielt in den bereits erwähnten gebirgigen, agrarischen Gebieten — die bisher von Informationen über sozialistische Vorstellungen so gut wie nicht erreicht wurden — eine nicht unbeträchtliche Rolle.“

Eine aus zwei Gründen interessante Feststellung. Erstens, weil hier die Wirkung des von Bacher reformierten Rundfunks als Element des sozialistischen Wahlsieges hervorgehoben wird, aber auch, weil sich dem wahlrelevanten West-Ost-Gefälle der geographischen und beruflichen Mobilität das gleicherweise von West nach Ost wirkende Gefälle der Informationserschließung gebirgiger, abgelegenen Agrargemeinden zugesellt, falls dieser Zusammenhang verifiziert werden kann.

Während die „Versachlichung der Information“ im 1966 entproportio- nalisierten Fernsehen durchaus im Sinne des sozialistischen Lagers wirkte, wurde ebendiese Versachlichung bewußt oft nicht zur Kenntnis genommen: „Die tatsächlichen Wirkungen selektiver Wahrnehmung sind in Österreich bisher nicht auf breiter Basis untersucht worden. Es muß jedoch in diesem Zusammenhang auf ein aus der besonders intensiven Lagerbindung erklärbares Phänomen verwiesen werden, das leider ebenfalls noch nicht eingehender untersucht wurde: Der zahlenmäßig nicht unbeträchtliche Kreis von politisch überdurchschnittlich engagierten Personen mit starker Parteibindung reagiert bemerkenswert heftig auf Informationen in Massenmedien, die als tendenziös und gegen die eigene Ansicht gerichtet empfunden werden. Experimente haben gezeigt, daß solche Informationen auch stärker erinnert werden und häufig als einzige aus längeren Sequenzen im Gedächtnis haften bleiben. Die Ablehnung einzelner Medien als tendenziös läßt sich in zahlreichen Fällen aus einer Summe solcher, für die Nachrichtenpolitik des jeweiligen Mediums unter Umständen gar nicht charakteristischen ,Schocks“ erklären.“ Was den seinerzeitigen SPÖ- Parteitag erklärt. Und sich, unter gegebenen Umständen, im anderen Lager genauso bewahrheiten könnte.

Ein Milieu, in dem die der Information folgende „Diskussionsphase“ in besonders geringem Maße im Sinne eines Lagers kanalisiert wird, ortet Konecny in dem der Angestellten, obwohl er der Trennung in Angestellte und Arbeiter nur geringe Bedeutung für das Wahl verhalten zugesteht. Während homogene Milieus dazu neigen, „abweichende Meinungen, die auf Grund bestimmter Informationen auftreten können, wieder zu korrigieren“ “, reagieren „als einzige Bevölkerungsgruppe Angestellte außerordentlich flexibel auch auf kleinere Veränderungen des politischen ,Klimas“… Diese Bevölkerungsgruppe lebt außerhalb derart .korrigierender“ Sozialbindungen; hier werden Informationen entweder individuell oder aber in Diskussionen verarbeitet, denen die ansonsten festzustellende Homogenität der Teilnehmer fehlt.“

Eine Homogenität übrigens, die viel stärker ist, als man annehmen würde. Umfragen zufolge wird in Österreich offenbar tatsächlich nur unter Gleichgesinnten oder aber in der Familie diskutiert und ansonsten jedem politischen Gespräch aus dem Weg gegangen. Politik zählt in Österreich offensichtlich zur Intimsphäre: „Zufällige Kontaktpersonen (Menschen, die man beim Einkäufen, beim Sport, in der Kirche trifft) fallen als politische Gesprächspartner völlig aus — und zwar bei allen statistischen Untergruppen gleichmäßig. Auch Bewohner kleinerer Gemeinden beispielsweise sprechen kaum mit anderen Kirchenbesuchern, auch Hausfrauen kaum mit Personen, die sie beim Einkäufen treffen.“

Der Österreicher als redseliges, aber in politicis verstummtes Volk — eine neue, oberflächliche Eindrücke durchaus bestätigende demoskopi- sche Lesart.

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