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Landschaft des Todes

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Wer die Täter nicht denunziert, denunziert die Völker. Das gilt auch für Gorbatschow. 50 Jähre mußte man warten, bis die Sowjetunion eingestand, daß die Ermordung von 15.131 polnischen Offizieren in den Wäldern von Katyn 1940 auf das Konto ihres stalinistischen Geheim- dienstes und nicht, wie stets treu- herzig beteuert, auf das deutscher Faschisten gehe. „Neue Dokumente" belegten dies, bekannte vergan- gene Woche der Kremlchef gegen- über Polens Präsidenten Wojciech Jaruzelski. Dabei tat er so, als komme erst jetzt ein entsetzliches Massaker ans Tageslicht, das Jahr- zehnte für die Nachgeborenen ver- borgen gewesen sei.

Doch wenn es eines Beweises be- dürfte, daß Völker von Tyrannen mißbraucht und selbst von demo- kratischen Regierungen belogen werden - Katyn wäre der Beweis. Man erinnere sich: Stalin beabsich- tigte ab 1939, durch die Vernich- tung großer Teile der militärischen und geistigen Elite Polens das Land an der Weichsel später einmal leich- ter seinem Reich einverleiben zu können. Seine nüchtern kalkulier- te Rechnung und sein planmäßig ausgeführtes Mordunternehmen versprachen Erfolg.

Als die deutschen Okkupatoren im Frühjahr 1943 die Massengrä- ber entdeckten, schenkte man der Goebbels-Propaganda verständli- cherweise wenig Glauben, hier hätten Russen an Polen ein Massa- ker verübt. Churchill kommentier- te sarkastisch: „Je weniger wir über Katyn verlauten lassen, desto bes- ser. " Und Roosevelt bezeichnete das ganze als „deutsche Verschwö- rung". Im Sommer 1943 fiel der Landstreifen um Katyn erneut dem Machtbereich der Roten Armee zu, und der bekannte russische Schrift- steller Ilja Ehrenburg begann - wider- besseres Wissen? - in der Armeezeitung „KrasnjaSvesda" zu dichten: „Die Deutschen sind keine Menschen. Wenn du einen Deut- schen getötet hast, so töte einen zweiten - für uns gibt es nichts Lustigeres als deutsche Leichen. Töte den Deutschen, das bittet dich deine greise Mutter; töte den Deut- schen, dies bitten dich deine Kin- der; töte den Deutschen, so ruft die Heimaterde."

Wen wundert es, daß bis heute mit Toten beider Seiten Propagan- da gemacht wurde? Und doch gibt es weder für die eine noch für die andere Barbarei eine Rechtferti- gung. Während Juden in den Gas- kammern ermordet wurden, ver- reckten im sibirischen Kolyma al- lein drei Millionen Arbeitssklaven durch Kälte und Hunger. Es ist nur eine akademische Frage zu spät Geborener, auf welcher Seite der Schande weniger Opfer zu bekla- gen waren und sind.

Und doch will so mancher Demo- krat in Westeuropa die Austausch- barkeit des Grauens, die Paralleli- tät der Verbrechen Hitlers und Stalins nicht hinnehmen. Oft ge- nügt schon das Argument, die Fa- schisten und deren Kollaborateure hätten mit Krieg und Ausrottung begonnen. Wenngleich nicht legi- tim, aber immerhin verständlich sei daher die darauffolgende Rache der anderen Seite. Man relativiert und stellt Stalins monströses Industria- lisierungskonzept gegen den mör- derischen Archipel Gulag. Man begibt sich damit in die Nähe jener, die, statt Theresienstadt, Buchen- wald zu beklagen, nach wie vor den Bau von Autobahnen als zentrales Verdienst der Hitlerdiktatur loben.

Und diese dümmliche Logik fin- det ihren Gegenpart im aufbrechen- den Osteuropa der Gegenwart. Hitler wird gegen Stalin relativiert. Ob im Baltikum, in der Ukraine oder der mehrheitlich rumänisch besiedelten Sowjetrepublik Molda- wien - überall begründen die de- mokratischen Volksfronten ihren Austritt aus dem Sowjetmachtbe- reich, ihren Kampf um Eigenstaat- lichkeit mit einer Abrechnung mit der verbrecherischen Stalinzeit, als Millionen Balten, Ukrainer, Rumä- nen, Sozialdemokraten, Christen und Moslems zwangsdeportiert wurden.

In der DDR verging in den letzten Wochen kaum ein Tag, an dem nicht ein neues Massengrab, ein Konzen- trationslager der Nazis als späteres Internierungslager der Sowjets für Greise und Kinder wiederentdeckt wurde. Eine Todeslandschaft so- wjetischer Lager wird aus dem Boden gehoben, in der Tschecho- slowakei wie im bulgarischen Dobrinista. Die jugoslawische Ge- fängnisinsel Goli otok kommt wie- der in die Schlagzeilen und am Moskauer Ismailowo-Platz blüht der legale Handel mit Nazi-Emble- men und deutscher Militaria.

Während jetzt die russische Öf- fentlichkeit die Wahrheit über Katyn erfährt, hört die polnische etwas über die panische Flucht von mehr als 200.000 Juden, die zwar dem faschistischen Holokaust ent- kamen, aber von den Kommunisten Zwangsdeportationen zu erwarten hatten, wie es gegenüber 500.000 Ukrainern, Weißrussen und Litau- ern im Nachkriegspolen Wirklich- keit wurde. Wieviele Katyns wer- den noch entdeckt? Die Täter wer- den bisher auf keiner Seite beim Namen genannt. Man wird das Gefühl nicht los, die jeweiligen „Katyns" spielen noch immer eine Rolle in der politischen Propagan- da.

Das ist nichts Neues. Niemand fragte, warum Churchill - gut un- terrichtet von der Lage in Auschwitz - die Deutschen gewähren und doch in den letzten Kriegstagen noch Dresden in Schutt und Asche legen ließ. Bleibt all das Grauen namen- los? Dient es nur mehr der Relati- vierung der eigenen Barbarei?

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